BAG 10. Senat, Urteil vom 20.11.2018, 10 AZR 121/18

Das Urteil unter dem Aktenzeichen 10 AZR 121/18 (BAG)

vom 20. November 2018 (Dienstag)


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Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. Januar 2018 - 9 Sa 999/17 - wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

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Die Parteien streiten über Beiträge zu dem Sozialkassensystem der Bauwirtschaft.

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Der Kläger ist die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft, eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes in der Rechtsform eines Vereins mit eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher Verleihung. Er hat nach den Vorschriften des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe und des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe in den jeweils geltenden Fassungen die Aufgabe, die Auszahlung der tariflichen Urlaubsvergütung an Arbeitnehmer der Bauwirtschaft zu sichern. Er erhebt von Arbeitgebern Beiträge, um seine Leistungen zu finanzieren.

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Die Beklagte unterhält im Freistaat Sachsen einen Trockenbaubetrieb. Sie ist nicht originär tarifgebunden. Der Kläger nimmt die Beklagte auf gemeldete Beiträge für gewerbliche Arbeiter und Angestellte für die Monate Mai bis Juli 2016 von 8.446,70 Euro in Anspruch. Er stützt seine Forderung auf §§ 15 ff. des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 3. Mai 2013 idF vom 24. November 2015 (VTV) iVm. der rückwirkend zum 1. Januar 2016 erfolgten Allgemeinverbindlicherklärung vom 4. Mai 2016 (AVE VTV 2016). Die Beitragspflicht der Beklagten ergibt sich nach seiner Auffassung auch aus § 7 Abs. 1 iVm. der Anlage 26 des erst nach Klageerhebung im ersten Rechtszug in Kraft getretenen Gesetzes zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 16. Mai 2017 (SokaSiG).

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Der Kläger hat beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 8.446,70 Euro zu zahlen.

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Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, eine wirksame Anspruchsgrundlage für die geforderten Beiträge fehle. Die AVE VTV 2016 sei unwirksam, das SokaSiG sei verfassungswidrig. Es handle sich um ein nach Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG verbotenes Einzelfallgesetz. Der Gesetzgeber habe die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grenzen für echte rückwirkende Rechtsetzung überschritten.

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Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat offengelassen, ob die AVE VTV 2016 wirksam ist. Es hat den Anspruch auf der Grundlage des SokaSiG bejaht und die Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiter.

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Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zu Recht zurückgewiesen. Die Klage ist zulässig und begründet. Dem Kläger stehen die geltend gemachten Beitragsansprüche sowohl aus §§ 15, 16 und 18 VTV iVm. der AVE VTV 2016 als auch aus § 7 Abs. 1 SokaSiG iVm. seiner Anlage 26 zu.

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A. Die Klage ist zulässig. Sie genügt den Anforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Kläger hat keinen neuen Streitgegenstand in den Prozess eingeführt, indem er den geltend gemachten Anspruch in erster Instanz zusätzlich auf das SokaSiG gestützt hat. Er musste daher nicht bestimmen, in welcher Reihenfolge er die Klage auf die verschiedenen Anspruchsgrundlagen stützt.

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I. Es ist Sache des Klägers, den Streitgegenstand zu bestimmen. Will er einen weiteren Streitgegenstand in den Prozess einführen, muss er zweifelsfrei deutlich machen, dass er einen neuen prozessualen Anspruch verfolgt. Gleiches gilt, wenn der bisherige Klageantrag nicht verändert, aber zusätzlich auf einen weiteren Lebenssachverhalt gestützt wird (BAG 18. Mai 2016 - 7 ABR 81/13 - Rn. 14). Ein Klageantrag, der auf mehrere selbstständige prozessuale Ansprüche (Streitgegenstände) gestützt wird, genügt deshalb grundsätzlich nur dann den Anforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, wenn die einzelnen Ansprüche hinreichend voneinander abgegrenzt sind. Dazu ist erforderlich, dass ein Kläger entweder die Klagesumme auf die einzelnen Ansprüche betragsmäßig aufteilt oder die Ansprüche in eine bestimmte Reihenfolge als Haupt- und Hilfsantrag bringt (BAG 18. Februar 2016 - 8 AZR 426/14 - Rn. 28; BGH 19. Juli 2018 - VII ZR 19/18 - Rn. 15). Das erfordert unter anderem der Schutz des Beklagten, für den erkennbar sein muss, welche prozessualen Ansprüche gegen ihn erhoben werden, um seine Rechtsverteidigung darauf ausrichten zu können (BGH 29. Juni 2006 - I ZR 235/03 - Rn. 20, BGHZ 168, 179). Über das Verhältnis der Anträge als Haupt- oder Hilfsantrag entscheidet dabei allein der Kläger. Das Gericht darf sie nicht umtauschen (BAG 14. Juni 2017 - 10 AZR 308/15 - Rn. 36).

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II. Der Kläger hat keinen weiteren Gegenstand in den Prozess eingeführt. Auch wenn er sich sowohl auf die AVE VTV 2016 als auch auf das SokaSiG beruft, leitet er den Klageanspruch aus ein und demselben Lebenssachverhalt her. Er stützt ihn lediglich auf zwei konkurrierende Anspruchsgrundlagen. Der Senat rückt von seiner geäußerten gegenteiligen Auffassung ab (vgl. zu ihr Hessisches LAG 3. November 2017 - 10 Sa 424/17 - zu Beginn der Gründe, das den Hinweisbeschluss des Senats vom 12. April 2017 in der Sache - 10 AZR 635/15 - zitiert).

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1. Nach dem für den Zivil- und den Arbeitsgerichtsprozess geltenden sog. zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff wird der Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens durch den konkret gestellten Antrag (Klageantrag) und den ihm zugrunde liegenden Lebenssachverhalt (Klagegrund) bestimmt (BAG 27. Februar 2018 - 9 AZR 167/17 - Rn. 18). Zum Klagegrund gehören alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden und den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtung zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören. Vom Streitgegenstand werden damit alle materiell-rechtlichen Ansprüche erfasst, die sich im Rahmen des gestellten Antrags aus dem zur Entscheidung unterbreiteten Lebenssachverhalt herleiten lassen.

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2. Nach der ständigen Rechtsprechung kommt es für die Abgrenzung nicht auf den Rechtscharakter der Anspruchsgrundlage, sondern entscheidend darauf an, ob sich die dem jeweiligen Anspruch zugrunde liegenden Lebenssachverhalte in wesentlichen Punkten unterscheiden.

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a) Nur ein Streitgegenstand ist gegeben, wenn der Tatsachenstoff nicht sinnvoll auf verschiedene eigenständige, den Sachverhalt in seinem Kerngehalt verändernde Geschehensabläufe aufgeteilt werden kann, auch wenn sie einer eigenständigen rechtlichen Bewertung zugänglich sind. Das gilt selbst dann, wenn sich die Anspruchsgrundlagen in einzelnen Merkmalen unterscheiden (BGH 21. November 2017 - II ZR 180/15 - Rn. 18, 21). Um einen einheitlichen Streitgegenstand kann es sich sogar handeln, wenn die Anspruchsgrundlagen den Kläger in einen jeweils anderen Rechtsweg verweisen (BGH 20. März 1997 - IX ZR 71/96 - zu III 3 der Gründe, BGHZ 135, 140).

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Einen einheitlichen Streitgegenstand bejaht der Bundesgerichtshof dementsprechend bei Ansprüchen aus Prospekthaftung im weiteren Sinn, aus § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 264a StGB und aus § 826 BGB, wenn sie im Kern darauf gestützt werden, dass der Emissionsprospekt fehlerhaft gewesen sei und den Anlegern einen unzutreffenden Eindruck von den Risiken und Nachteilen der Fondsbeteiligung vermittelt habe (BGH 21. November 2017 - II ZR 180/15 - Rn. 20, 22). Ebenso können mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in der Person des Insolvenzverwalters entstandene anfechtungs- und deliktsrechtliche Ansprüche sowie aus Vertrag hergeleitete Ansprüche von einem einheitlichen Streitgegenstand erfasst werden (vgl. BGH 29. November 2007 - IX ZR 121/06 - Rn. 9, 11 f., BGHZ 174, 314). Selbst ein im Weg der Legalzession nach § 426 Abs. 2 BGB erworbener materieller Schadensersatzanspruch nach dem Straßenverkehrsgesetz und ein Ausgleichsanspruch nach § 426 Abs. 1 BGB können einen einheitlichen prozessualen Anspruch bilden (BGH 10. Dezember 2002 - X ARZ 208/02 - zu III 2 der Gründe, BGHZ 153, 173).

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b) Dagegen können unterschiedliche Streitgegenstände gegeben sein, wenn Ansprüche auf einen gemeinsamen Tatsachenkern zurückzuführen und wirtschaftlich auf das gleiche Ziel gerichtet sind, der Kläger die Leistung also nur einmal verlangen kann. Das kommt insbesondere dann in Betracht, wenn sich die Gemeinsamkeit im Tatsachenkern erschöpft, die Ansprüche jedoch sowohl in ihren materiell-rechtlichen Voraussetzungen als auch in ihren Folgen verschieden sind (BGH 5. Juli 2016 - XI ZR 254/15 - Rn. 26, BGHZ 211, 189; 3. März 2016 - IX ZB 33/14 - Rn. 28, BGHZ 209, 168). Um eine Mehrheit von Streitgegenständen handelt es sich auch, wenn die materiell-rechtliche Regelung die zusammentreffenden Ansprüche durch eine Verselbstständigung der einzelnen Lebensvorgänge erkennbar unterschiedlich ausgestaltet (BGH 21. November 2017 - II ZR 180/15 - Rn. 17 f. mwN; 27. November 2013 - III ZB 59/13 - Rn. 17, BGHZ 199, 159). Auch grundlegende strukturelle Unterschiede zwischen den in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen können der Annahme eines einheitlichen Streitgegenstands entgegenstehen (BGH 27. November 2013 - III ZB 59/13 - Rn. 18, aaO).

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aa) Unterschiedliche Streitgegenstände erkennt der Bundesgerichtshof etwa bei einem Unterhaltsanspruch und einem deliktischen Anspruch aus der vorsätzlichen Verletzung einer Unterhaltspflicht an (BGH 3. März 2016 - IX ZB 33/14 - Rn. 29, BGHZ 209, 168). Das gilt auch für Schadensersatzansprüche aus § 823 BGB und nachbarrechtliche Ausgleichsansprüche analog § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB (BGH 16. Juli 2010 - V ZR 217/09 - Rn. 10). Eine auf Vertragserfüllung gestützte Klage soll ebenfalls einen anderen Streitgegenstand haben als der Schadensersatz wegen vorsätzlichen Verschuldens bei Vertragsschluss (sog. vorsätzliche culpa in contrahendo; BGH 15. Januar 2001 - II ZR 48/99 - zu B II der Gründe). Auch bei dem auf das Informationsfreiheitsgesetz gestützten Anspruch auf Informationszugang und dem auf der Grundlage der §§ 29, 13 Abs. 1 VwVfG geltend gemachten Akteneinsichtsrecht werden verschiedene Streitgegenstände angenommen (BGH 27. November 2013 - III ZB 59/13 - Rn. 15, BGHZ 199, 159).

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bb) Das Bundesarbeitsgericht geht regelmäßig von verschiedenen Streitgegenständen aus, wenn ein Anspruch sowohl auf eine vertragliche als auch auf eine tarifvertragliche Grundlage gestützt wird (vgl. nur BAG 20. September 2017 - 6 AZR 474/16 - Rn. 40, BAGE 160, 205; 25. Januar 2017 - 4 AZR 517/15 - Rn. 21 ff., BAGE 158, 54). Dasselbe gilt, wenn sich der Kläger auf verschiedene Tarifverträge beruft (BAG 16. November 2016 - 4 AZR 697/14 - Rn. 72) oder hilfsweise die Vergütungspflicht nach einer niedrigeren Entgeltgruppe festgestellt wissen will, deren Voraussetzungen nicht denknotwendig zugleich gegeben sein müssen, um die höherwertige Entgeltgruppe zu erfüllen (BAG 23. Oktober 2013 - 4 AZR 321/12 - Rn. 34, 36). In diesen Fällen decken sich die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen zwar teilweise, die sie stützenden Lebenssachverhalte sind jedoch durch wesentliche Unterschiede gekennzeichnet.

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3. Nach diesen Maßgaben werden die hier in Rede stehenden, zusammentreffenden Ansprüche von demselben den Streitgegenstand umgrenzenden Lebenssachverhalt erfasst (ebenso Hessisches LAG 8. Februar 2018 - 9 Sa 740/16 - zu B I 1 b der Gründe; 12. September 2017 - 12 Sa 92/14 - zu III 1 a der Gründe; LAG Berlin-Brandenburg 16. November 2017 - 14 Sa 989/17 - zu B III 2 b der Gründe; 22. September 2017 - 22 Sa 1701/16 - zu 2.1.1.2.3 der Gründe; 21. September 2017 - 21 Sa 1694/16 - zu II 1 b der Gründe; vgl. auch Klocke AuR 2018, 230, 231; aA Hessisches LAG 3. November 2017 - 10 Sa 424/17 - zu A I 2 der Gründe; wohl auch Bader jurisPR-ArbR 9/2018 Anm. 8 zu E). Die Ansprüche stützen sich auf dasselbe Tatgeschehen. Sie sind weder in ihren materiell-rechtlichen Voraussetzungen noch in ihren Folgen oder strukturell grundlegend verschieden ausgestaltet.

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a) Der vom Kläger vorgetragene Lebenssachverhalt besteht im Wesentlichen darin, dass die nicht tarifgebundene Beklagte im Jahr 2016 im Freistaat Sachsen einen unter den Geltungsbereich des VTV fallenden Trockenbaubetrieb unterhielt und für die Monate Mai bis Juli 2016 Beiträge für von ihr beschäftigte gewerbliche Arbeiter und Angestellte von 8.446,70 Euro meldete.

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b) Dieser Lebenssachverhalt ist nach seinem tatsächlichen Ablauf einheitlich. Er kann nicht sinnvoll auf die den beiden infrage kommenden Anspruchsnormen zugeordneten Geschehensabläufe aufgeteilt werden. Im Rahmen des vom Kläger gestellten Antrags lassen sich aus ihm beide materiell-rechtlichen Ansprüche herleiten, die der Kläger geltend macht. Die Tatbestandsvoraussetzungen der beiden im Streitfall in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen erfordern dasselbe rechtliche Prüfungsprogramm. Für den aus §§ 15 ff. VTV iVm. der AVE VTV 2016 hergeleiteten Klageanspruch ist zu prüfen, ob der in § 1 Abs. 1 bis Abs. 3 VTV geregelte räumliche, betriebliche und persönliche Geltungsbereich des Tarifvertrags eröffnet ist. Das gilt auch, wenn der Anspruch auf § 7 Abs. 1 SokaSiG gestützt wird. Die Norm nimmt auf die in der Anlage 26 des SokaSiG abgedruckte, seit dem 1. Januar 2016 geltende Fassung des VTV Bezug, die Gegenstand der AVE VTV 2016 war.

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c) Der Annahme nur eines Streitgegenstands steht nicht entgegen, dass die Beitragspflicht in dem einen Fall auf einer nach § 5 Abs. 4 TVG durch AVE bewirkten Normerstreckung des VTV beruht, während es sich bei § 7 SokaSiG um eine gesetzliche Anspruchsgrundlage handelt.

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aa) Es bestehen keine materiell-rechtlichen Abweichungen im Hinblick auf die jeweilige Reichweite der Normerstreckung: Die in § 10 Abs. 1 SokaSiG geregelte Ausnahme solcher Betriebe vom Anwendungsbereich der in § 7 SokaSiG in Bezug genommenen Rechtsnormen, die die Maßgaben der in der Anlage 37 des SokaSiG abgedruckten „Großen Einschränkungsklausel“ erfüllen, ist tatbestandlich identisch mit der sog. Großen Einschränkungsklausel, die Gegenstand der AVE VTV 2016 war. Der Streitfall unterscheidet sich damit maßgeblich von dem Sachverhalt, über den der Fünfte Senat am 28. September 2016 zu befinden hatte (- 5 AZR 219/16 - Rn. 22). Die materiell-rechtlichen Regelungen, aus denen sich die dort in Betracht kommenden Ansprüche ergaben, sind so unterschiedlich ausgestaltet, dass sich der vorzutragende Tatsachenstoff auf die verschiedenen, den einzelnen Anspruchsnormen zuzuordnenden Geschehensabläufe aufteilen ließ. Bei den Regelungen handelte es sich einerseits um § 1 Abs. 1 iVm. § 3 MiLoG und andererseits um den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag zur Regelung der Mindestlöhne für gewerbliche Arbeitnehmer in der Gebäudereinigung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 8. Juli 2014.

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bb) Die zusammentreffenden Ansprüche sind auch nicht strukturell grundlegend verschieden ausgestaltet (aA Hessisches LAG 3. November 2017 - 10 Sa 424/17 - zu A I 2 b der Gründe). Für beide Anspruchsgrundlagen ist die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen im Urteilsverfahren gegeben (§ 2 Nr. 6 ArbGG). Das SokaSiG enthält insoweit keine Besonderheiten.

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(1) Die Rechtmäßigkeit einer AVE als Rechtsetzungsakt eigener Art ist grundsätzlich von Amts wegen zu überprüfen (BAG 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - Rn. 133, BAGE 156, 213; 10. September 2014 - 10 AZR 959/13 - Rn. 20, BAGE 149, 84). Über die Wirksamkeit aller Allgemeinverbindlicherklärungen der von § 7 Abs. 1 bis Abs. 10 SokaSiG in Bezug genommenen Verfahrenstarifverträge liegen jedoch bereits rechtskräftige Beschlüsse mit Wirkung für und gegen jedermann vor („erga omnes“; § 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG). Davon unberührt bleibt die - ebenfalls von Amts wegen zu prüfende - Aussetzung nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG bis zu der Erledigung des Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG bei vernünftigen Zweifeln an der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit einer Vereinigung (BAG 31. Januar 2018 - 10 AZR 695/16 (A) - Rn. 11).

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(2) Wegen der Regelung in § 11 SokaSiG kommt es für einen aus § 7 Abs. 1 bis Abs. 10 SokaSiG hergeleiteten Zahlungsanspruch nicht darauf an, ob der VTV in den dort bezeichneten Fassungen wirksam abgeschlossen wurde.

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(3) Das Gericht wäre nach Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtet, den Rechtsstreit auszusetzen, wenn es § 7 SokaSiG für verfassungswidrig hielte und es auf dessen Gültigkeit entscheidungserheblich ankäme. Eine in dem Verfahren nach Art. 100 GG vorgelegte Vorschrift, die sich als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar erweist, ist grundsätzlich nach § 82 Abs. 1 iVm. § 78 Satz 1 BVerfGG für nichtig zu erklären.

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(4) Dass für Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG das Landesarbeitsgericht zuständig ist (§ 97 Abs. 2 ArbGG), während die Entscheidung in dem Verfahren nach Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist, hat für die Sachbehandlung bei natürlicher Betrachtung ebenso wenig herausragende Bedeutung wie die Regelung in § 11 SokaSiG. Nach § 138 ZPO bezieht sich die Erklärungspflicht der Parteien nur auf Tatsachen. Die Frage, welche Anspruchsgrundlagen von einem in den Prozess eingeführten Streitgegenstand erfasst werden, unterliegt nicht ihrer Disposition (BGH 8. Februar 2018 - IX ZR 103/17 - Rn. 40). Sie betrifft die Normebene und damit allein die dem Gericht obliegende rechtliche Bewertung des zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplexes. Deshalb muss ein Kläger grundsätzlich weder vortragen, auf welche Rechtsnorm er sein Begehren stützt, noch muss er darlegen, dass die Rechtsnorm wirksam ist. Diese Prüfung ist ebenso wie die Subsumtion des vorgetragenen Sachverhalts Sache des Gerichts („da mihi facta dabo tibi ius“; vgl. BAG 13. März 1997 - 2 AZR 512/96 - zu II 4 b der Gründe, BAGE 85, 262).

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d) Die Annahme mehrerer Streitgegenstände kann ferner nicht damit begründet werden, der Gesetzgeber habe es dem Kläger mit § 7 SokaSiG ermöglichen wollen, Beitragsschuldner auch in den Fällen in Anspruch zu nehmen, in denen auf eine unwirksame AVE gestützte Beitragsklagen bereits rechtskräftig abgewiesen wurden. Der Wortlaut der Vorschrift lässt ein solches Verständnis nicht zu. Sie kann auch nicht mithilfe der Gesetzesmaterialien in diesem Sinn ausgelegt werden.

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aa) Am 21. September 2016 hatte der Senat die AVE der in § 7 Abs. 3, Abs. 7, Abs. 8 und Abs. 9 SokaSiG bezeichneten Verfahrenstarifverträge für unwirksam erklärt (BAG 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - Rn. 138 ff., BAGE 156, 213; 21. September 2016 - 10 ABR 48/15 - Rn. 169 ff., BAGE 156, 289). Angesichts der wirtschaftlichen Risiken, die den Sozialkassen des Baugewerbes infolgedessen drohten, wollte der Gesetzgeber mit dem SokaSiG vor allem eine eigenständige, rückwirkende Rechtsgrundlage für das „Behaltendürfen“ der bereits eingezogenen Beiträge im Sozialkassenverfahren schaffen. Darüber hinaus sollte das Gesetz den weiteren Einzug der Beiträge sicherstellen. Die Sozialkassen müssten damit rechnen, auf die Rückzahlung von Beiträgen in Anspruch genommen zu werden, was aus vielfältigen Gründen problematisch sei und den Fortbestand der Sozialkassenverfahren des Baugewerbes gefährden könne. Vor diesem Hintergrund müsse ein Gesetz die Unsicherheit im Hinblick auf im Raum stehende Rückforderungsansprüche beenden und den aktuellen Beitragseinzug sicherstellen. Das Gesetz müsse Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für die unterschiedlichen Leistungsbeziehungen zwischen den Sozialkassen des Baugewerbes, den Betrieben, den überbetrieblichen Ausbildungsstätten, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Auszubildenden sowie den Rentnerinnen und Rentnern schaffen (BT-Drs. 18/10631 S. 648 f.).

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bb) Die Gesetzesmaterialien erlauben nicht den Schluss, der Gesetzgeber habe dem Kläger mit dem SokaSiG zugleich die Möglichkeit verschaffen wollen, auf eine unwirksame AVE gestützte und rechtskräftig abgewiesene Beitragsklagen auf der Grundlage des SokaSiG erneut zu erheben. Die genannten Beschlüsse des Senats stammen vom 21. September 2016 (BAG 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; 21. September 2016 - 10 ABR 48/15 - BAGE 156, 289). Zwischen ihnen und dem Inkrafttreten des SokaSiG am 25. Mai 2017 lag ein Zeitraum von nur etwa acht Monaten. Deshalb bestand keine Gefahr, dass mit Bezug auf diese Beschlüsse ergangene Urteile in einem die Existenz der Sozialkassen des Baugewerbes gefährdenden Umfang in Rechtskraft erwachsen würden.

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e) Ein einheitlicher Streitgegenstand wäre auch dann zu bejahen, wenn die Klage einen Zeitraum beträfe, in dem der VTV keine normative Wirkung nach § 5 Abs. 4 TVG entfalten konnte, weil die maßgebliche AVE unwirksam war. In diesem Fall wäre die Klage ursprünglich unschlüssig gewesen und im Verlauf des Verfahrens durch das Inkrafttreten des SokaSiG am 25. Mai 2017 schlüssig geworden.

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aa) Auch wenn es sich bei dem SokaSiG um ein rückwirkendes „Rettungsgesetz“ handelte, auf das sich der Kläger im Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht berufen konnte, rechtfertigt das keine „wertende Betrachtung“, die zu der Annahme zweier Streitgegenstände zwingt (aA Hessisches LAG 3. November 2017 - 10 Sa 424/17 - zu A I 2 b der Gründe). Jede Änderung der Rechtslage als Klageänderung zu werten, wäre unvereinbar mit dem Verständnis des Streitgegenstands als prozessualem und nicht materiell-rechtlichem Anspruch (ebenso LAG Berlin-Brandenburg 22. September 2017 - 22 Sa 1701/16 - zu 2.1.1.2.3 der Gründe).

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bb) Die Rechtsverteidigung der Beklagten wurde nicht beschränkt. Insbesondere kann auch ein erst im Verlauf des Rechtsstreits schlüssig gewordener Anspruch noch „sofort“ im Sinn des § 93 ZPO anerkannt werden (OLG Düsseldorf 27. September 2017 - I-1 W 53/16 - zu II 3 der Gründe mwN; Zöller/Herget ZPO 32. Aufl. § 93 Rn. 6 Stichwort „unschlüssige Klage“).

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B. Die Klage ist begründet. Der Kläger hat aus § 15 Abs. 1 Satz 1, § 16 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. b, § 18 Abs. 1 VTV iVm. der AVE VTV 2016 Anspruch auf die geltend gemachten Beiträge. Der Anspruch ergibt sich auch aus § 7 Abs. 1 iVm. der Anlage 26 SokaSiG.

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I. Die Beklagte ist nach § 15 Abs. 1 Satz 1, § 16 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. b, § 18 Abs. 1 VTV iVm. der AVE VTV 2016 verpflichtet, die geltend gemachten Beiträge an den Kläger zu leisten.

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1. Der im Freistaat Sachsen belegene Betrieb der Beklagten fällt in den räumlichen und den betrieblichen Geltungsbereich des VTV (§ 1 Abs. 1, Abs. 2 VTV). Dort werden unstreitig arbeitszeitlich überwiegend Tätigkeiten iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 37 VTV ausgeführt. Der persönliche Geltungsbereich des VTV erstreckt sich auf die bei der Beklagten beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer und Angestellten (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 VTV).

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2. Die Beklagte war ungeachtet ihrer fehlenden Verbandszugehörigkeit nach § 5 Abs. 4 TVG an den VTV gebunden. Die AVE VTV 2016 ist wirksam. Das hat der Senat am 20. November 2018 in dem Verfahren nach § 98 ArbGG entschieden (BAG 20. November 2018 - 10 ABR 12/18 - Rn. 27 ff.). Der Beschluss wirkt für und gegen jedermann und auf den Zeitpunkt des Erlasses der AVE VTV 2016 zurück (§ 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG; GK-ArbGG/Ahrendt Stand Dezember 2017 § 98 Rn. 7).

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3. Der Kläger hat nach § 3 Abs. 1 Satz 1 VTV Anspruch auf die zur Finanzierung des Urlaubs- und des Berufsbildungsverfahrens festgesetzten Beiträge. Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 VTV zieht er als Einzugsstelle sowohl seine eigenen Beiträge als auch die Beiträge der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes ein, die nach § 3 Abs. 2 Satz 1 VTV zusätzliche Leistungen zu den gesetzlichen Renten gewährt. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 VTV hat die Beklagte zur Finanzierung der tarifvertraglich festgelegten Leistungen als Sozialkassenbeitrag einen Gesamtbetrag von 17,2 vH der Bruttolohnsumme ihrer gewerblichen Arbeitnehmer abzuführen. Für die Zusatzversorgung ihrer Angestellten muss sie nach § 16 Abs. 1 iVm. Abs. 2 Buchst. b VTV für jeden Angestellten einen monatlichen Beitrag von 25,00 Euro zahlen. Die Beiträge sind nach § 18 Abs. 1 Satz 1 VTV für jeden Abrechnungszeitraum spätestens bis zum 20. des folgenden Monats bargeldlos an den Kläger zu zahlen.

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II. Der Klageanspruch ergibt sich auch aus § 7 Abs. 1 iVm. der Anlage 26 SokaSiG. Das hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt.

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1. Nach § 7 Abs. 1 SokaSiG gelten die Rechtsnormen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 3. Mai 2013 in der aus der Anlage 26 des SokaSiG ersichtlichen Fassung in seinem Geltungsbereich für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer für den Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis zu der Beendigung des Tarifvertrags. Die Anlage 26 des SokaSiG enthält den vollständigen Text des im Streitzeitraum geltenden VTV (vgl. den Anlageband zum BGBl. I Nr. 29 vom 24. Mai 2017 S. 255 bis 268).

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2. Der Betrieb der Beklagten unterfällt, wie bereits ausgeführt, dem Geltungsbereich des VTV. Die Pflicht der Beklagten, die geltend gemachten Beiträge an den Kläger zu leisten, folgt aus § 15 Abs. 1 Satz 1, § 16 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. b, § 18 Abs. 1 VTV.

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3. Nach Auffassung des Senats begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Rechtsnormen der Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe durch § 7 SokaSiG auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber wie die Beklagte erstreckt werden. Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG kommt daher nicht in Betracht.

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a) § 7 SokaSiG ordnet in den Absätzen 1 bis 10 die Wirkung der Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe für den Zeitraum vom 1. Januar 2006 (VTV vom 20. Dezember 1999 idF vom 15. Dezember 2005) bis zu der Beendigung des VTV vom 3. Mai 2013 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 24. November 2015 „für alle Arbeitgeber“ an. § 7 Abs. 11 SokaSiG regelt die Tarifnormerstreckung auf Arbeitsverhältnisse zwischen im Ausland ansässigen Arbeitgebern und ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmern. § 10 SokaSiG nimmt Betriebe, die die Maßgaben der Anlage 37 des SokaSiG erfüllen, vom Anwendungsbereich der tarifvertraglichen Rechtsnormen aus, auf die § 7 SokaSiG verweist. § 11 SokaSiG stellt klar, dass diese Rechtsnormen unabhängig davon gelten, ob die Tarifverträge wirksam abgeschlossen wurden. Die Allgemeinverbindlichkeit tarifvertraglicher Rechtsnormen nach dem Tarifvertragsgesetz bleibt unberührt (§ 13 SokaSiG).

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b) Gegen die formelle Verfassungsmäßigkeit von § 7 SokaSiG bestehen keine Bedenken. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich aus Art. 70 Abs. 2, Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (ebenso Hessisches LAG 17. August 2018 - 10 Sa 180/18 SK - zu II 4 b aa der Gründe; LAG Berlin-Brandenburg 16. Juni 2017 - 3 Sa 1831/16 - zu B II 1 der Gründe). Der Kompetenztitel „Arbeitsrecht“ begründet eine umfassende Zuständigkeit des Bundes für privatrechtliche und auch öffentlich-rechtliche Bestimmungen über die Rechtsbeziehungen im Arbeitsverhältnis (BVerfG 6. Juni 2018 - 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 - Rn. 36). Er umfasst neben dem Recht der Individualarbeitsverträge auch das Tarifvertragsrecht, ohne dem Vorbehalt der Erforderlichkeit des Art. 72 Abs. 2 GG zu unterliegen (BVerfG 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16 - Rn. 126, BVerfGE 146, 71). Im Gesetzgebungsverfahren wurde vereinzelt gerügt, der Gesetzgeber habe die Fakten nicht hinreichend ermittelt, auf die er das Gesetzesvorhaben stütze (vgl. zB die Stellungnahme des Zentralverbands der Deutschen Elektro- und Informationstechnischen Handwerke AS-Drs. 18(11)902 S. 39 f.). Das begründet keinen Verfassungsverstoß. Eine selbstständige, von den Anforderungen an die materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes unabhängige Sachaufklärungspflicht folgt aus dem Grundgesetz nicht (BVerfG 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16 - Rn. 127, aaO).

45

c) § 7 SokaSiG ist mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar.

46

aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG in erster Linie ein Freiheitsrecht auf spezifisch koalitionsgemäße Betätigung (BVerfG 12. Juni 2018 - 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/15 - Rn. 115). Es schützt die individuelle Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden und diesen Zweck gemeinsam zu verfolgen, ihnen fernzubleiben oder sie zu verlassen. Darüber sollen die Beteiligten grundsätzlich frei von staatlicher Einflussnahme, selbst und eigenverantwortlich bestimmen können. Das Grundrecht schützt darüber hinaus alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Es umfasst insbesondere die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten steht, ihre Zwecke zu verfolgen. Das Aushandeln von Tarifverträgen ist ein wesentlicher Zweck der Koalitionen. Geschützt ist daher vor allem der Abschluss von Tarifverträgen. Das schließt den Bestand und die Anwendung abgeschlossener Tarifverträge ein (BVerfG 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16 - Rn. 130 f., BVerfGE 146, 71).

47

bb) Die vorbehaltlos gewährleistete Koalitionsfreiheit verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht jede Regelung im Schutzbereich dieses Grundrechts. Art. 9 Abs. 3 GG verschafft den Tarifvertragsparteien in dem für tarifvertragliche Regelungen offenstehenden Bereich kein Normsetzungsmonopol (BVerfG 3. April 2001 - 1 BvL 32/97 - zu B 3 der Gründe, BVerfGE 103, 293). Gesetzliche Regelungen, die eine Beeinträchtigung von Art. 9 Abs. 3 GG bewirken, können zugunsten der Grundrechte Dritter sowie sonstiger mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechte und Gemeinwohlbelange gerechtfertigt werden. Sollen sie die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie herstellen und sichern, verfolgen sie einen legitimen Zweck. Der Gesetzgeber hat eine entsprechende Ausgestaltungsbefugnis. Er hat die Rechtsinstitute und Normenkomplexe zu setzen, die dem Handeln der Koalitionen und insbesondere der Tarifautonomie Geltung verschaffen (BVerfG 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16 - Rn. 143 ff., BVerfGE 146, 71). Er darf insbesondere die Ordnungsfunktion der Tarifverträge unterstützen, indem er Regelungen schafft, die bewirken, dass die von den Tarifvertragsparteien ausgehandelten Löhne und Gehälter auch für Nichtverbandsmitglieder mittelbar zur Anwendung kommen (BVerfG 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00 - Rn. 90, BVerfGE 116, 202).

48

cc) § 7 SokaSiG verfolgt einen legitimen Zweck. Die Norm dient der Sicherung der Tarifautonomie (Asshoff SR 2017, 190, 192). Sie sichert den Fortbestand des von den Tarifvertragsparteien des Baugewerbes geschaffenen Sozialkassensystems, indem sie die Anwendung der seit dem 1. Januar 2006 geltenden Verfahrenstarifverträge auf Nichtverbandsmitglieder ausdehnt (BT-Drs. 18/10631 S. 3). Dabei werden weder die koalitionsspezifischen Verhaltensweisen der Tarifvertragsparteien noch der materielle Inhalt der tariflichen Regelungen berührt (vgl. Berndt DStR 2017, 1166, 1170; Biedermann BB 2017, 1333, 1337; Engels NZA 2017, 680, 683; Ulber NZA 2017, 1104 f.).

49

(1) Das gemeinnützige Sozialkassensystem im Baugewerbe besteht seit 1949. Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben mit der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft sowie mit der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes gemeinsame Einrichtungen errichtet, von deren Leistungen eine Vielzahl von Arbeitnehmern, Auszubildenden und Rentnern profitiert. Das Baugewerbe ist der weitaus bedeutendste Bereich, in dem gemeinsame Einrichtungen der Tarifpartner vorkommen (BVerfG 15. Juli 1980 - 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 - zu A I 2 der Gründe, BVerfGE 55, 7). Die Sozialkassenverfahren des Baugewerbes setzen voraus, dass die Lasten von den Arbeitgebern gemeinsam und solidarisch - unabhängig von der Tarifbindung des Arbeitgebers - getragen werden. Sie streben nach allgemeiner Geltung (BT-Drs. 18/10631 S. 1). Daher wurden die Verfahrenstarifverträge im Baugewerbe bisher regelmäßig nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt.

50

(2) Die beteiligten Rechtskreise hatten nicht erwartet, dass der Senat die AVE der in § 7 Abs. 3, Abs. 7, Abs. 8 und Abs. 9 SokaSiG bezeichneten Verfahrenstarifverträge für unwirksam erklären würde (vgl. BAG 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - Rn. 138 ff., BAGE 156, 213; 21. September 2016 - 10 ABR 48/15 - Rn. 169 ff., BAGE 156, 289; Thüsing NZA-Beilage 1/2017, 3: „Paukenschlag“). Die Entscheidungen wurden überwiegend als Gefährdung des Fortbestands der Sozialkassen gewertet (vgl. nur Asshoff AS-Drs. 18(11)902 S. 21, 24; Bayreuther AS-Drs. 18(11)902 S. 57, 59).

51

(3) Die Tarifvertragsparteien erfüllen mit der Schaffung von Tarifnormen, die der Allgemeinverbindlicherklärung zugänglich sind, in besonderem Maß die ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG zugewiesene öffentliche Aufgabe, die Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme zu gestalten (BVerfG 15. Juli 1980 - 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 - zu B II 2 b der Gründe, BVerfGE 55, 7). § 7 SokaSiG ordnet die Geltungserstreckung der Tarifnormen an und korrigiert damit etwaige „Fehler“ des Normgebers der AVE der seit dem 1. Januar 2006 geltenden Verfahrenstarifverträge im Baugewerbe (Bayreuther AS-Drs. 18(11)902 S. 57, 60). Der Gesetzgeber durfte sich dabei für eine andere Rechtsform als die in § 5 TVG geregelte Allgemeinverbindlicherklärung entscheiden (kritisch Thüsing NZA-Beilage 1/2017, 3, 7: „schlichtweg nicht vorhersehbar“). Die Wahl einer anderen Rechtsform für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter ändert an Inhalt und Ergebnis der Erwägungen zu der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nichts (BVerfG 18. Juli 2000 - 1 BvR 948/00 - zu II 2 der Gründe). Indem § 9 Abs. 1 SokaSiG ausdrücklich die Beendigung eines Tarifvertrags durch die dort genannten Akte gestattet, können die Tarifvertragsparteien einzeln oder gemeinsam über das Ende der gesetzlichen Geltungsanordnung bestimmen (BT-Drs. 18/10631 S. 649; zust. Klein AS-Drs. 18(11)902 S. 43, 46; Biedermann BB 2017, 1333, 1337; Engels NZA 2017, 680, 683).

52

(4) § 7 SokaSiG geht nicht über diesen legitimen Zweck hinaus. Insbesondere werden den tariffreien Arbeitgebern keine neuen, bisher nicht vorhandenen finanziellen oder sonstigen Belastungen auferlegt. Durch die gesetzliche Geltungsanordnung in § 7 SokaSiG werden sie weder zwangsweise Mitglied eines der tarifvertragsschließenden Verbände, noch wird es ihnen verwehrt, sich anderweitig als Koalition iSv. Art. 9 Abs. 3 GG zusammenzuschließen. Soweit die gesetzliche Geltungserstreckung des VTV einen mittelbaren Druck erzeugen sollte, um der größeren Einflussmöglichkeit willen Mitglied einer der tarifvertragsschließenden Parteien zu werden, ist dieser Druck jedenfalls nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit verletzt würde. Das hat das Bundesverfassungsgericht für die Allgemeinverbindlicherklärung von Sozialkassentarifverträgen des Baugewerbes bereits mehrfach entschieden (BVerfG 10. September 1991 - 1 BvR 561/89 - zu II 2 der Gründe mwN). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, dass die Verpflichtung eines Bauunternehmens zur Abführung von Sozialkassenbeiträgen keinen Eingriff in dessen Recht darstellt, nicht gegen seinen Willen einer Vereinigung beitreten zu müssen (EGMR 2. Juni 2016 - 23646/09 - [Geotech Kancev GmbH/Deutschland] Rn. 53 ff.).

53

d) § 7 SokaSiG verstößt nicht gegen die durch Art. 12 GG geschützte Berufsfreiheit.

54

aa) Die Rechtsnormen, deren Geltung § 7 Abs. 1 bis Abs. 10 SokaSiG anordnet, enthalten keine Berufszugangsregeln. Voraussetzung dafür wäre, dass die Berufsaufnahme an persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten oder Leistungsnachweise gebunden würde (vgl. BVerfG 20. Dezember 2017 - 1 BvR 2233/17 - Rn. 10). Das trifft weder für die Beitrags- noch für die Auskunftspflichten zu, die durch diese Rechtsnormen begründet werden.

55

bb) Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Erwerbszwecken dienende Tätigkeit auch vor staatlichen Beeinträchtigungen, die gerade auf die berufliche Betätigung bezogen sind (BVerfG 20. März 2007 - 1 BvR 1047/05 - Rn. 33, BVerfGK 10, 450). Die Berufsfreiheit ist auch dann berührt, wenn sich die Maßnahmen zwar nicht auf die Berufstätigkeit selbst beziehen, aber die Rahmenbedingungen der Berufsausübung verändern und infolge ihrer Gestaltung in einem so engen Zusammenhang mit der Ausübung des Berufs stehen, dass sie objektiv eine berufsregelnde Tendenz haben (BVerfG 13. Juli 2004 - 1 BvR 1298/94, 1 BvR 1299/94, 1 BvR 1332/95, 1 BvR 613/97 - zu C I 1 der Gründe, BVerfGE 111, 191). Indem der VTV in den Fassungen, auf die § 7 Abs. 1 bis Abs. 10 SokaSiG verweist, den Betrieben des Baugewerbes Zahlungspflichten auferlegt, die dazu verwendet werden, die Urlaubsentgeltansprüche der Arbeitnehmer im Baugewerbe zu erfüllen, ihre Aus- und Fortbildung sicherzustellen und den in Bauberufen tätig gewesenen Arbeitnehmern eine zusätzliche Altersrente zu gewähren, greift er nicht als Berufsausübungsregelung in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte unternehmerische Betätigungsfreiheit der verpflichteten Arbeitgeber ein. Die durch die Beitragspflicht bezweckte Umlagefinanzierung des Urlaubskassenverfahrens, der Berufsbildung und der zusätzlichen Altersversorgung im Baugewerbe betrifft lediglich den Interessenausgleich zwischen den branchenzugehörigen Arbeitgebern untereinander und zu den Arbeitnehmern auf übertariflicher Ebene (vgl. BVerfG 15. Juli 1980 - 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 - zu B II 4 b der Gründe, BVerfGE 55, 7).

56

e) Ob die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber aufgrund der Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016 schuldrechtliche Ansprüche erworben und welche Höhe diese Ansprüche ggf. gehabt haben könnten, kann dahinstehen. Selbst wenn ihre rückwirkende Beseitigung als Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG betrachtet würde, genügte dieser Eingriff in jedem Fall den verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. BVerfG 25. Januar 2017 - 1 BvR 2297/10 - Rn. 35 ff. mwN).

57

aa) Der Eigentumsgarantie kommt im Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zu, einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und Menschen dadurch eine eigenverantwortliche Gestaltung ihres Lebens zu ermöglichen (BVerfG 8. Mai 2012 - 1 BvR 1065/03, 1 BvR 1082/03 - Rn. 41, BVerfGE 131, 66). Grundsätzlich verstößt es nicht gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG, wenn durch einen Tarifvertrag Geldleistungspflichten auferlegt werden (BAG 19. Februar 2014 - 10 AZR 428/13 - Rn. 27 mwN).

58

bb) Unter den Schutz der Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 GG fallen jedoch auch schuldrechtliche Ansprüche, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes erworben worden sind, soweit sie bereits bestehen (BVerfG 26. April 2015 - 1 BvR 1420/13 - Rn. 8). Ein gesetzgeberischer Eingriff in einen solchen Anspruch ist von Verfassungs wegen von vornherein ausgeschlossen, wenn damit ausschließlich im Interesse Privater liegende, rein fiskalische Interessen oder vom Grundgesetz missbilligte Ziele verfolgt werden. Darüber hinaus ist die gesetzgeberische Entscheidung nur dahin überprüfbar, ob sie offensichtlich und eindeutig unvereinbar mit verfassungsrechtlichen Wertungen ist, wie sie insbesondere in den Grundrechten oder den Staatszielbestimmungen zum Ausdruck kommen. Das Gemeinwohlziel muss grundsätzlich geeignet sein, die Enteignungen zu rechtfertigen, die typischerweise in Betracht kommen, um das Ziel zu erreichen. Je nach geregeltem Lebenssachverhalt können infolgedessen die Anforderungen an seine Bedeutung variieren. Weder wiegt jede Enteignung gleich schwer, noch vermag jedes legitime Gemeinwohlziel Enteignungen jeglicher Schwere zu rechtfertigen. Auch bei dieser Gewichtung steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zu, der einer verfassungsrechtlichen Vertretbarkeitskontrolle unterliegt (BVerfG 25. Januar 2017 - 1 BvR 2297/10 - Rn. 35 mwN).