BVerwG 8. Senat, Urteil vom 27.02.2019, 8 C 2/18

Das Urteil unter dem Aktenzeichen 8 C 2/18 (BVerwG)

vom 27. Februar 2019 (Mittwoch)


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Die Klägerin begehrt die Feststellung ihrer vermögensrechtlichen Berechtigung und eine Entschädigung wegen der Entziehung der Aktienbeteiligung des Herrn A. P. an der C. R. AG.

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Die Gesellschaft wurde 1923 gegründet und 1925 im Handelsregister eingetragen. Ihr Sitz befand sich spätestens ab 1932 im späteren Beitrittsgebiet. Im Frühjahr 1936 schied A. P., der zum Kreis der während des Nationalsozialismus aus rassischen Gründen Verfolgten gehörte, aus dem Vorstand der Gesellschaft aus und veräußerte seine Aktienbeteiligung im Umfang von 39,975 %. Danach verlegte die C. R. AG ihren Sitz in das Gebiet des späteren West-Berlin. 1937 wurde ihr Vermögen unter Übernahme der Schulden und Ausschluss der Liquidation aufgrund des Umwandlungsgesetzes vom 5. Juli 1934 auf die von den verbliebenen Aktionären am selben Sitz errichtete C. R. KG übertragen. 1953 wurde die C. R. GmbH mit Sitz in West-Berlin gegründet. Ihr Unternehmenszweck war die Übernahme und Weiterführung des Verlagsgeschäfts der Firma C. R. KG. Im selben Jahr wurde die C. R. KG im Handelsregister gelöscht.

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Am 13. August 1992 meldete die Klägerin "46,4 % des Aktienkapitals der C. R. AG, ehemaliger Eigentümer A. P." an. 1996 erstreckte sie ihre Anmeldung auf ehemalige Grundstücke der C. R. AG.

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Mit Bescheid vom 13. April 2015 lehnte das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen die Anträge ab. Eine Schädigung des Unternehmens der C. R. AG sei nicht feststellbar. Auf den Entzug der Anteile des A. P. an der C. R. AG sei § 1 Abs. 6 VermG räumlich nicht anwendbar, weil der Verlust der Anteile bereits dem alliierten Rückerstattungsrecht unterfallen sei. Dieses sei nicht nur anwendbar gewesen, wenn die Schädigung in dessen späteren Anwendungsbereich erfolgt sei, sondern auch dann, wenn das Schädigungsobjekt in dessen Geltungsbereich verbracht worden sei.

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Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage begehrt die Klägerin nur noch die Feststellung ihrer vermögensrechtlichen Berechtigung und eine Entschädigung wegen der Entziehung des Aktienanteils von 39,975 % des A. P. an der C. R. AG. Mit Urteil vom 30. März 2017 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. April 2015 verpflichtet, festzustellen, dass die Klägerin hinsichtlich des Verlusts der Beteiligung des A. P. in Höhe von 39,975 % an der C. R. AG Berechtigte im Sinne des Vermögensgesetzes ist, und ihr eine Entschädigung in Höhe von 172 576,19 € zuzüglich Zinsen zu gewähren. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, A. P. habe diese Beteiligung im Frühjahr 1936 verfolgungsbedingt im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG verloren. Der rechtzeitig angemeldete Vermögensverlust falle in den räumlichen Anwendungsbereich dieser Vorschrift. Insoweit komme es lediglich darauf an, dass die Schädigung sich im späteren Beitrittsgebiet ereignet habe. Das sei hier der Fall. Aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. November 2009 - 8 C 12.08 - folge für Fälle wie dem vorliegenden nichts anderes, zumal sonst durch aufwändige Ermittlungen im Einzelfall geklärt werden müsste, ob das Rückerstattungsrecht einschlägige Regelungen vorgehalten hätte. Zudem wäre dann § 1 Abs. 2 Satz 2 NS-VEntschG weitgehend überflüssig.

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Selbst wenn man der Ansicht der Beklagten folge, erweise deren Bescheid sich als rechtswidrig. Vorliegend gehe es nämlich nicht um den Verlust eines Unternehmens, sondern um den Verlust einer Unternehmensbeteiligung, die naturgemäß keinen Sitz habe. Zudem sei die Anmeldefrist des Art. 50 Abs. 2 der Anordnung BK/O (49) 180 bei Wiederaufnahme der Geschäfte 1953 bereits abgelaufen gewesen. Ansprüche nach dem Bundesrückerstattungsgesetz kämen hier offenkundig nicht in Betracht.

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Mit ihrer Revisionsbegründung rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1 Abs. 6 VermG. Die Vorschrift sei nur anzuwenden, wenn der entzogene Vermögenswert sich sowohl zum Zeitpunkt der Schädigung als auch bei Inkrafttreten des Vermögensgesetzes im Beitrittsgebiet befunden habe. Sei der Vermögenswert nach der Schädigung in das Gebiet der späteren Westzonen verbracht worden, sei eine Wiedergutmachung bereits auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 1, Art. 18 Abs. 3, 19 ff. der Anordnung BK/O (49) 180 (REAO) möglich gewesen.

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Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 30. März 2017 zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

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Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

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Die zulässige Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf einer unzutreffenden Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG und stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 137 Abs. 1, § 144 Abs. 4 VwGO).

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Das Verwaltungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der räumliche Anwendungsbereich des § 1 Abs. 6 VermG stets eröffnet ist, wenn sich die Schädigung, aus der die jeweils geltend gemachten vermögensrechtlichen Ansprüche abgeleitet werden, im späteren Beitrittsgebiet ereignete. Dies ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die unmittelbare Anwendbarkeit des § 1 Abs. 6 VermG. Der räumliche Geltungsbereich der Vorschrift ist nur eröffnet, wenn darüber hinaus der räumliche Bezug der Schädigungsmaßnahme zum Beitrittsgebiet auch im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vermögensgesetzes bestand. Das setzt grundsätzlich voraus, dass der im Beitrittsgebiet entzogene Vermögenswert auch bei Inkrafttreten des Vermögensgesetzes dort belegen war (vgl. BVerwG, Urteile vom 9. Dezember 2004 - 7 C 2.04 - BVerwGE 122, 286 <288 f.> und vom 25. November 2009 - 8 C 12.08 - BVerwGE 135, 272 Rn. 33 aE). War er - wie die hier entzogene Aktienbeteiligung - vorher untergegangen, ist der für die Anwendbarkeit des § 1 Abs. 6 VermG erforderliche räumliche Bezug gegeben, wenn das Restitutionsobjekt sich bei seinem Untergang im Beitrittsgebiet befand. Dagegen ist dieser räumliche Bezug entfallen, wenn das Restitutionsobjekt nach der Entziehung und vor Inkrafttreten des Vermögensgesetzes aus dem Beitrittsgebiet in den Geltungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts verbracht wurde und in dessen Anwendungsbereich fiel.

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1. Diese Grenzen des räumlichen Anwendungsbereichs des § 1 Abs. 6 VermG ergeben sich aus dessen Entstehungsgeschichte, dem systematischen Zusammenhang und dem Sinn und Zweck der Vorschrift.

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a) Die Beschränkung des räumlichen Geltungsbereichs des Vermögensgesetzes und damit des § 1 Abs. 6 VermG auf das spätere Beitrittsgebiet folgt aus dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip. Das Vermögensgesetz wurde noch vor dem Beitritt der DDR von der Volkskammer erlassen und konnte daher Geltung nur in deren ehemaligem Hoheitsgebiet beanspruchen. Rückübertragungsansprüche konnte es folglich nur in Bezug auf Restitutionsobjekte begründen, die bei seinem Inkrafttreten im späteren Beitrittsgebiet belegen waren. Seine Fortgeltung als partikulares Bundesrecht erweitert seinen räumlichen Anwendungsbereich nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2004 - 7 C 2.04 - BVerwGE 122, 286 <288 f.>).

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b) Die Regelungen über die örtliche Zuständigkeit in § 35 Abs. 2 und 3 VermG und der daran anknüpfende § 3 Abs. 5 VermG stellen daher auf die aktuelle Belegenheit des zurückverlangten Vermögenswertes ab und gehen davon aus, dass dieser bei Inkrafttreten des Vermögensgesetzes im Beitrittsgebiet belegen war (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2000 - 8 B 60.00 - Buchholz 428 § 1 Abs. 6 VermG Nr. 6 S. 22 f.).

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c) Ist ein im Beitrittsgebiet geschädigter Vermögenswert vor Inkrafttreten des Vermögensgesetzes untergegangen, ist der räumliche Anwendungsbereich des § 1 Abs. 6 VermG eröffnet, wenn der Vermögenswert sich zum Zeitpunkt seines Untergangs noch im späteren Beitrittsgebiet befand. Dagegen scheidet eine unmittelbare Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG aus, wenn der im Beitrittsgebiet entzogene Vermögenswert vor seinem Untergang in den Geltungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts verbracht wurde und in dessen Anwendungsbereich fiel. Dann widerspräche eine zusätzliche Anwendbarkeit des § 1 Abs. 6 VermG dem Erfordernis des räumlichen Bezugs zum Beitrittsgebiet und dem Sinn und Zweck der Vorschrift.

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§ 1 Abs. 6 VermG soll die Wiedergutmachungslücke schließen, die sich daraus ergab, dass in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR keine dem alliierten und bundesdeutschen Wiedergutmachungsrecht gleichwertigen Vorschriften galten (BVerwG, Urteile vom 6. April 1995 - 7 C 5.94 - BVerwGE 98, 137 <143>, vom 27. Mai 1997 - 7 C 67.96 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 112 S. 338 und vom 25. November 2009 - 8 C 12.08 - BVerwGE 135, 272 Rn. 34; Beschlüsse vom 23. August 2000 - 8 B 60.00 - Buchholz 428 § 1 Abs. 6 VermG Nr. 6 S. 22. f. und vom 5. September 2000 - 8 B 176.00 -). § 1 Abs. 6 VermG dient damit dem Ausgleich verfolgungsbedingter, bis zum 8. Mai 1945 eingetretener Vermögensverluste im späteren Beitrittsgebiet, die mangels Anwendbarkeit rückerstattungs- und wiedergutmachungsrechtlicher Vorschriften in der Nachkriegszeit nicht geltend gemacht werden konnten (vgl. BT-Drs. 12/2944 S. 50). In Fällen, die bereits diesem Recht unterfielen, begründet das Vermögensgesetz keine neuen oder darüber hinausgehenden Ansprüche. § 1 Abs. 6 VermG bezweckt weder eine Doppelregelung für solche Schädigungen noch eine "Nachbesserung" der im alliierten oder bundesdeutschen Wiedergutmachungsrecht geregelten Rechtsfolgen. Das gilt auch, wenn die einschlägigen Vorschriften keine Naturalrestitution ermöglichten, sondern den Geschädigten auf die Geltendmachung von Sekundäransprüchen verwiesen (BVerwG, Urteil vom 25. November 2009 - 8 C 12.08 - BVerwGE 135, 272 Rn. 34 f.).

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Danach ist § 1 Abs. 6 VermG in Fällen, in denen ein Vermögenswert im späteren Beitrittsgebiet geschädigt und anschließend in den späteren Geltungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts verbracht wurde, nicht unmittelbar anzuwenden. Diese Schädigungen fielen in den Anwendungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts. Es erfasste alle Schädigungen von Vermögenswerten, die in seinem räumlichen Geltungsbereich entzogen worden waren. Im Interesse möglichst umfassender Wiedergutmachung wurden in seinen Anwendungsbereich außerdem die Fälle einbezogen, in denen außerhalb des Geltungsbereichs des Rückerstattungsrechts entzogene Vermögensgegenstände oder deren Surrogate zu einem späteren Zeitpunkt in dessen Geltungsbereich verbracht worden waren (BVerwG, Urteil vom 25. November 2009 - 8 C 12.08 - BVerwGE 135, 272 Rn. 38).

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Außerhalb des Anwendungsbereichs des Rückerstattungsrechts blieben Entziehungen im Beitrittsgebiet belegener Vermögenswerte, die nicht vor Inkrafttreten des Vermögensgesetzes in den Geltungsbereich des Rückerstattungsrechts gelangten. Für solche Entziehungen sollte § 1 Abs. 6 VermG eine den rückerstattungsrechtlichen Vorschriften vergleichbare Wiedergutmachungsregelung treffen.

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Dementsprechend ergänzen die Anwendungsbereiche beider wiedergutmachungsrechtlicher Regelungssysteme einander, ohne sich zu überschneiden. Dies vermeidet vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Doppelregelungen ein- und desselben Sachverhalts durch verschieden ausgestaltete Wiedergutmachungsvorschriften, insbesondere im Bereich der Unternehmens- und Anteilsrestitution. Gleichzeitig wird gewährleistet, dass § 1 Abs. 6 VermG im Rahmen seiner territorialen Geltung alle nationalsozialistischen Entziehungen von Vermögenswerten erfasst, die nicht schon dem Rückerstattungsrecht unterfielen. Dies minimiert die verbleibende, wegen des Territorialitätsprinzips unvermeidliche Regelungslücke. Sie betrifft Fälle, in denen im Beitrittsgebiet entzogene Vermögenswerte erst nach Ablauf der rückerstattungsrechtlichen Anmeldefristen, aber vor Inkrafttreten des Vermögensgesetzes nach Westdeutschland oder West-Berlin verbracht worden waren. In diesen Fällen ist § 1 Abs. 6 VermG entsprechend anzuwenden (BVerwG, Urteile vom 9. Dezember 2004 - 7 C 2.04 - BVerwGE 122, 286 <288 f.>, vom 23. Februar 2006 - 7 C 4.05 - Buchholz 428 § 1 Abs. 6 Nr. 35 und vom 25. November 2009 - 8 C 12.08 - BVerwGE 135, 272 Rn. 41).

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d) Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts führt die dargestellte Begrenzung des räumlichen Anwendungsbereiches des § 1 Abs. 6 VermG nicht dazu, dass § 1 Abs. 2 Satz 2 NS-VEntschG praktisch funktionslos würde. Nach dieser Vorschrift wird eine Entschädigung nicht gewährt für Vermögensverluste, für die der Berechtigte bereits Leistungen nach dem Bundesrückerstattungsgesetz oder anderen Rückerstattungsgesetzen erhalten hat. Wer schon nach diesen Vorschriften Wiedergutmachung erhalten hat, soll sie für denselben Vermögensverlust nicht noch einmal beanspruchen können (BT-Drs. 12/7588 S. 44). Die Vorschrift stellt klar, dass eine Wiedergutmachungsleistung für einen Vermögensverlust den Entschädigungsanspruch nach dem NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz schon dem Grunde nach ausschließt und ihn nicht nur im Wege der Anrechnung vermindert.

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§ 1 Abs. 2 NS-VEntschG findet - auch nach dem dargestellten Verständnis des § 1 Abs. 6 VermG - Anwendung, wenn Vermögenswerte, die im späteren Beitrittsgebiet entzogen wurden, in einen Rückerstattungsvergleich einbezogen wurden (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 17. März 2015 - 8 C 5.14 - Buchholz 428.42 § 1 NS-VEntschG Nr. 5). Die Vorschrift hat zudem bei Ansprüchen auf Bruchteilsrestitution nach § 3 Abs. 1 Satz 4 Halbs. 2 VermG Bedeutung, wenn die Schädigung von Anteilen an einem Unternehmen mit Sitz in Westdeutschland oder West-Berlin mit Betriebsvermögen im Beitrittsgebiet nach Rückerstattungsrecht wiedergutgemacht wurde. § 1 Abs. 2 Satz 2 NS-VEntschG verhindert in diesen Fällen, dass eine Bruchteilsrestitutionsentschädigung für Vermögensgegenstände dieses Unternehmens im Beitrittsgebiet geleistet wird, wenn die rückerstattungsrechtlichen Wiedergutmachungsleistungen auch für diese Vermögensgegenstände erbracht wurden.

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e) Die dargestellte Abgrenzung des räumlichen Anwendungsbereichs des § 1 Abs. 6 VermG widerspricht weder völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland noch dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot.

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aa) Aus Ziffer 4 c der Vereinbarung der Bundesrepublik Deutschland mit den Drei Mächten vom 27./28. September 1990 zu dem Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten sowie zu dem Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (BGBl. II S. 1386) ergibt sich keine Verpflichtung, in den Anwendungsbereich des § 1 Abs. 6 VermG auch Schädigungen von Vermögenswerten einzubeziehen, die nach ihrer Entziehung in den Geltungsbereich des alliierten Rückerstattungsrechts verbracht wurden und dessen Regelungen unterfielen. Die vertragliche Regelung verlangt vielmehr, für das Beitrittsgebiet Regelungen zu treffen, die den rückerstattungsrechtlichen, dort nicht anwendbaren Regelungen gleichwertig waren. Dagegen fordert sie nicht, für bereits vom Rückerstattungsrecht erfasste Fälle weitergehende Wiedergutmachungsregelungen zu schaffen (BVerwG, Urteil vom 25. November 2009 - 8 C 12.08 - BVerwGE 135, 272 Rn. 48).

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bb) Nach Art. 3 Abs. 1 GG muss der Anwendungsbereich des § 1 Abs. 6 VermG ebenfalls nicht auf bereits dem Rückerstattungsrecht unterfallende Schädigungen erstreckt werden. Das für die Regelung des Wiedergutmachungsrechts einschlägige Willkürverbot (BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. Februar 2004 - 1 BvR 1948/00 - VIZ 2004, 220 <221>) verlangt keine Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG auf die Entziehung von Vermögenswerten, die nach ihrer Schädigung aus dem Beitrittsgebiet in den Geltungsbereich des Rückerstattungsrechts verbracht wurden und in dessen Anwendungsbereich fielen. Der sachliche Grund für deren Ungleichbehandlung im Vergleich zur Entziehung im Beitrittsgebiet belegener und nicht nach Westdeutschland oder West-Berlin verbrachter Vermögenswerte liegt darin, dass Letztere - im Unterschied zu Ersterer - nicht rückerstattungsrechtlich geltend gemacht werden konnte und bis zum Inkrafttreten des Vermögensgesetzes keine Wiedergutmachung nach sonstigen, gleichwertigen Vorschriften eröffnet war.

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Aus dem Willkürverbot lässt sich auch keine Verpflichtung ableiten, für rückerstattungsrechtlich geltend zu machende Schädigungen ergänzende vermögensrechtliche Ansprüche vorzusehen. Der Gesetzgeber konnte sich willkürfrei darauf beschränken, für die nicht vom Rückerstattungsrecht erfassten Schädigungen im Beitrittsgebiet eine dem Niveau dieser Regelungen in etwa entsprechende Wiedergutmachung vorzusehen. Dabei genügte es sicherzustellen, dass jede Schädigung im Gebiet des heutigen Inlands entweder vom Rückerstattungs- und dem daran anknüpfenden bundesdeutschen Wiedergutmachungsrecht oder vom Vermögensrecht erfasst wurde (BVerwG, Urteil vom 25. November 2009 - 8 C 12.08 - BVerwGE 135, 272 Rn. 44 ff.).

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Entgegen der Auffassung der Klägerin verlangt Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung des Willkürverbots schließlich nicht, die in den Fällen des Gebietstauschs praktizierte analoge Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG auf alle Fälle zu erstrecken, in denen ein im Beitrittsgebiet geschädigter Vermögenswert nachträglich in den Geltungsbereich des Rückerstattungsrechts verbracht wurde. Wie oben dargelegt, besteht eine durch Analogie zu schließende Regelungslücke nur, wenn der Vermögenswert erst nach Ablauf der rückerstattungsrechtlichen Anmeldefristen, aber vor Inkrafttreten des Vermögensgesetzes nach Westdeutschland oder West-Berlin gelangt war, sodass seine Entziehung weder rückerstattungsrechtlich noch vermögensrechtlich geltend gemacht werden konnte.

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2. Das angegriffene Urteil beruht auf der fehlerhaften Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs des § 1 Abs. 6 VermG, weil es keine revisionsrechtlich fehlerfreie, selbstständig tragende Alternativbegründung enthält.

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Seine Hilfserwägung, Unternehmensbeteiligungen hätten keinen Sitz, dessen Verlagerung der Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG entgegenstehen könne, beruht auf einer Begriffsverwechslung und trifft auch im Übrigen nicht zu. Sie übersieht, dass bei Anteilsschädigungen die Belegenheit der entzogenen Beteiligung maßgeblich ist, die sich bei Aktienanteilen - und damit auch hier - regelmäßig nach dem Sitz des Unternehmensträgers bestimmt (BVerwG, Urteil vom 19. Februar 2009 - 8 C 4.08 - Buchholz 428 § 2 VermG Nr. 92 Rn. 21 f.). Auf das im angegriffenen Urteil erwähnte Versterben der Gründungsmitglieder der C. R. KG kommt es für die Anwendbarkeit des § 1 Abs. 6 VermG ebenso wenig an wie auf die Feststellung der Vorinstanz, eine werbende Tätigkeit der Gesellschaft in der Zeit von 1945 bis 1953 sei nicht ersichtlich. Die Anwendbarkeit des Rückerstattungsrechts und die Unanwendbarkeit des § 1 Abs. 6 VermG ergab sich schon daraus, dass die entzogene Beteiligung mit der Verlegung des Unternehmenssitzes im Frühjahr 1937 aus dem späteren Beitrittsgebiet in den räumlichen Geltungsbereich des Rückerstattungsrechts verbracht wurde und in dessen Anwendungsbereich fiel (zu den rückerstattungsrechtlichen Folgen einer Unternehmensumwandlung sogleich unter 3.).

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3. Das vorinstanzliche Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Bei zutreffender Auslegung des § 1 Abs. 6 VermG schied dessen Anwendung aus, weil die im späteren Beitrittsgebiet entzogene Aktienbeteiligung des A. P. anschließend mit der Verlegung des Sitzes der damaligen C. R. AG nach West-Berlin in den Geltungsbereich des Rückerstattungsrechts verbracht wurde und die Entziehung in dessen Anwendungsbereich fiel. Dazu genügt es, dass das Rückerstattungsrecht überhaupt eine Regelung für einen solchen Fall bereitstellte. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob im konkreten Fall die Tatbestandsvoraussetzungen eines rückerstattungsrechtlichen Primär- oder Sekundäranspruchs erfüllt waren, ob die Wiedergutmachungsbehörden seinerzeit die einschlägigen Vorschriften zutreffend angewendet hatten und ob bereits Wiedergutmachungsleistungen erbracht wurden. § 1 Abs. 6 VermG gewährleistet kein Mindestmaß der Wiedergutmachung im Einzelfall, sondern nur, dass die nicht dem Rückerstattungs- und Wiedergutmachungsrecht unterfallenden verfolgungsbedingten Vermögensverluste im Beitrittsgebiet nunmehr geltend gemacht werden können (BVerwG, Urteil vom 25. November 2009 - 8 C 12.08 - BVerwGE 135, 272 Rn. 40).

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Für den hier vorliegenden Fall enthielt das Rückerstattungsrecht einschlägige Regelungen. Wie oben dargestellt, war sein Anwendungsbereich schon wegen des Verbringens der entzogenen Beteiligung in seinen Geltungsbereich eröffnet. Art. 19 f. REAO sah eine Wiedergutmachung von Anteilsentziehungen selbst bei zwischenzeitlicher Umwandlung des Unternehmens vor. Dies betraf auch die Entziehung von Aktienanteilen, deren gutgläubiger Erwerb nach Art. 18 Abs. 1 und 3 REAO ausgeschlossen war. Andernfalls war der geschädigte Aktionär auf Ersatzansprüche nach Art. 26 REAO verwiesen.

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Für eine entsprechende Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG bleibt mangels wiedergutmachungsrechtlicher Lücke im oben (Rn. 30) dargestellten Sinn kein Raum. Selbst wenn die Wiedergutmachungslücke, der Auffassung der Klägerin folgend, nicht als normative Lücke, sondern als Anspruchslücke zu verstehen wäre, ergäbe sich hier kein anderes Ergebnis. Wegen A. P.' maßgeblicher Beteiligung an der Aktiengesellschaft und seines langjährigen, nahezu zeitgleich mit den Aktien entzogenen Vorstandsmandats spricht viel für das Bestehen eines Anspruchs auf Begründung einer Beteiligung am umgewandelten Unternehmen gemäß Art. 18 Abs. 3 Nr. 3 i.V.m. Art. 19 f. REAO. Andernfalls hätten, da die zwangsveräußerten Aktien von einer mit den Umständen vertrauten Person erworben wurden, nach Art. 1 f., 18 Abs. 1 und Art. 26 REAO jedenfalls Restitutions- oder Ersatzansprüche gegen den Erwerber oder dessen Rechtsnachfolger bestanden.

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Selbst wenn statt der oben dargestellten Abgrenzung des Anwendungsbereichs des § 1 Abs. 6 VermG Kriterien wie die tatsächliche Durchsetzbarkeit etwaiger Ansprüche maßgeblich wären, hätte die Klage keinen Erfolg haben können. Nach den verwaltungsgerichtlichen Feststellungen ist nicht davon auszugehen, dass eine Geltendmachung rückerstattungsrechtlicher Ansprüche von vornherein unmöglich oder auch nur praktisch ausgeschlossen oder aussichtslos gewesen wäre. Die Verlegung des Sitzes der Gesellschaft und deren Umwandlung waren aus dem Handelsregister zu ersehen. Dort wurde die Kommanditgesellschaft erst 1953 gelöscht, nachdem eine GmbH zur Fortführung des Unternehmens gegründet worden war. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Durchsetzung rückerstattungsrechtlicher Ansprüche mangels greifbarer Verpflichteter oder mangels Substanz hätte scheitern müssen.

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Der Senat kann gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO in der Sache selbst entscheiden. Nach den verwaltungsgerichtlichen Feststellungen zur Verlegung des Sitzes des von der Anteilsentziehung betroffenen Unternehmens in den Geltungsbereich des Rückerstattungsrechts ist § 1 Abs. 6 VermG weder unmittelbar noch entsprechend anzuwenden. Folglich besteht weder eine vermögensrechtliche Berechtigung nach dieser Vorschrift noch ein daran anknüpfender Anspruch auf Entschädigung nach § 1 Abs. 1 NS-VEntschG.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.