BSG 8. Senat, Beschluss vom 06.12.2018, B 8 SO 38/18 B

Das Urteil unter dem Aktenzeichen B 8 SO 38/18 B (BSG)

vom 6. Dezember 2018 (Donnerstag)


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(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen § 123 SGG - unzulässige Beschränkung des Streitgegenstandes - Verpflichtung des Vorsitzenden zur Hinwirkung auf die Stellung sachdienlicher Anträge)

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. Mai 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung und Verhandlung an dieses Gericht zurückverwiesen.

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I. Im Streit sind Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) sowie Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

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Die Klägerin sprach erstmals am 22.7.2014 beim Beklagten vor und beantragte Grundsicherungsleistungen, was dieser mit der Begründung ablehnte, das vorhandene Renteneinkommen übersteige den Bedarf (Bescheid vom 22.7.2014); ebenso wurde ein Folgeantrag abgelehnt (Bescheid vom 12.5.2016, Widerspruchsbescheid vom 13.9.2016). Die Klage hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts <SG> Reutlingen vom 18.5.2017; Beschluss des Landessozialgerichts <LSG> Baden-Württemberg vom 7.5.2018). Das LSG hat zur Begründung ua ausgeführt, Grundsicherungsleistungen könne die Klägerin nicht beanspruchen, da sie wegen des zu berücksichtigenden laufenden Einkommens nicht hilfebedürftig sei. Ein Anspruch auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 f SGB XII) komme zwar in Betracht, sei aber nicht Streitgegenstand, da der Beklagte hierüber nicht entschieden habe. Es bleibe der Klägerin unbenommen, einen gesonderten Antrag auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten zu stellen.

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Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Beschluss macht die Klägerin als Verfahrensfehler ua eine Verkennung des Streitgegenstandes geltend. Sie habe von Anfang an auf Härtefallgesichtspunkte hingewiesen, weshalb der Beklagte auch Ansprüche nach §§ 67 f SGB XII prüfen und das LSG auf eine sachdienliche Antragstellung hätte hinwirken müssen.

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Mit Bescheid vom 28.5.2018 hat es der Beklagte abgelehnt, Leistungen nach §§ 67 f SGB XII zu erbringen.

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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Die Entscheidung des LSG beruht auf einem Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, weil das LSG den Streitgegenstand verkannt und damit gegen § 123 SGG verstoßen hat. Der Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG).

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Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und vor allem bei nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG; vgl zuletzt BSG Beschluss vom 1.3.2018 - B 8 SO 52/17 B mwN). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage bzw der Berufung verfolgte Prozessziel, bei nicht eindeutigen Anträgen im Wege der Auslegung festzustellen (vgl etwa BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 180; BSG Urteil vom 8.12.2010 - B 6 KA 38/09 R). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (vgl nur BSG Urteil vom 25.6.2002 - B 11 AL 23/02 R - juris RdNr 21; BSG Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2). Im Zweifel ist davon auszugehen, dass nach Maßgabe des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl etwa BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 16). Der Grundsatz, dass im Zweifel von einem umfassenden Rechtsschutzbegehren ausgegangen werden muss, ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Auftrags der Gerichte zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die Auslegung von Anträgen richtet sich danach, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen; im Zweifel ist davon auszugehen, dass ein Kläger alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (stRspr, vgl zuletzt BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 52/17 B unter Hinweis auf BSGE 74, 77, 79 = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 47; BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 3 RdNr 10; BSG SozR 4-1500 § 92 Nr 2 RdNr 9).

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Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben konnte schon das SG bei verständiger Würdigung das Begehren der nicht anwaltlich vertretenen Klägerin nicht so verstehen, dass diese den Leistungsanspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII beschränken wollte. Die Klägerin hat bereits im Widerspruchsverfahren 2016 mehrfach auf das Vorliegen eines Härtefalls hingewiesen. Damit hatte der Beklagte die erforderliche Kenntnis iS des § 18 Abs 1 SGB XII, ohne dass es - wie das LSG meint - auf einen ausdrücklichen Antrag angekommen wäre. Zur Annahme von Kenntnis ist bereits ausreichend (aber auch erforderlich), dass die Notwendigkeit der Hilfe erkennbar ist, nicht aber in welchem Umfang die Hilfe geleistet werden muss (vgl BSG Urteil vom 2.2.2012 - B 8 SO 5/10 R = SozR 4-3500 § 62 Nr 1 RdNr 18). Der Beklagte hat sich auch im Widerspruchsbescheid mit dem erweiterten Vorbringen der Klägerin auseinandergesetzt und Ansprüche abgelehnt. Die Klägerin hat sodann im erstinstanzlichen Verfahren erneut auf außergewöhnliche Belastungen hingewiesen und damit hinreichend deutlich gemacht, Leistungen nach dem SGB XII nach allen denkbaren Anspruchsgrundlagen erhalten zu wollen. Der Verfahrensfehler hat sich vor dem LSG fortgesetzt. Das LSG hätte, ausgehend gerade von seinem in den Entscheidungsgründen geäußerten Rechtsstandpunkt, Ansprüche nach §§ 67 f SGB XII könnten in Betracht kommen, zur Korrektur des Verfahrensfehlers (vgl dazu etwa BSG Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 134/14 B - juris RdNr 11) das wahre Klagebegehren der Klägerin ermitteln und ihr die Möglichkeit einräumen müssen, ihren Antrag nunmehr richtigzustellen.

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Eine Zurückweisung der Beschwerde war auch nicht deshalb geboten, weil bereits feststünde, dass die angegriffene Entscheidung unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt Bestand haben wird (vgl dazu nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 18 mwN). Angesichts der fehlenden Feststellungen zu dem nach Ansicht des LSG in Frage kommenden streitgegenständlichen Anspruch nach §§ 67 f SGB XII ist ein Erfolg der Berufung nicht ausgeschlossen.

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Der neue Bescheid des Beklagten vom 28.5.2018 wird nach §§ 96, 153 SGG Gegenstand des wieder rechtshängigen Berufungsverfahrens (BSG Urteil vom 21.1.1959 - 11/9 RV 1234/56 - BSGE 9, 78). Das LSG wird dabei als Tatsacheninstanz den Sachverhalt auch insoweit aufzuklären haben, als dies für die Beurteilung des neuen Verwaltungsakts erforderlich ist (BSG Beschluss vom 25.5.2005 - B 11a/11 AL 187/04 B - juris RdNr 12).

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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.