BVerwG 1. Senat, Beschluss vom 24.04.2019, 1 C 37/16

Das Urteil unter dem Aktenzeichen 1 C 37/16 (BVerwG)

vom 24. April 2019 (Mittwoch)


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1. Der Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 2. August 2017 ist nach Anhörung der Beteiligten aufzuheben, soweit er die Fragen 1 Buchst. a und 2 betrifft. Diese Fragen sind durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. März 2019 in den verbundenen Rechtssachen C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 ([ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a.) beantwortet.

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2. Das Gericht sieht hingegen weiterhin Klärungsbedarf in Bezug auf die Frage 1 Buchst. b im Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 2. August 2017 zur Anwendung der Befugnis des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU in Fällen, in denen die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge, in dem anderen Mitgliedstaat, der dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt hat, gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstößt.

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Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 19. März 2019 in den verbundenen Rechtssachen C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 allerdings dahin erkannt, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als subsidiär Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erfahren. Dies trifft keine ausdrückliche Aussage zu der Frage, ob Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU es einem Mitgliedstaat verbietet, diese Befugnis auszuüben, wenn der Antragsteller - unter Beachtung der besonders hohen Schwelle der Erheblichkeit, wie sie sich aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 19. März 2019 in der Rechtssache C-163/17 ([ECLI:EU:C:2019:218], Jawo Rn. 91) ergibt - einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als Flüchtling erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erfahren, weil er sich aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.

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Aus dem Urteil vom 19. März 2019 in den verbundenen Rechtssachen C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 mag zwar der Umkehrschluss gezogen werden, dass für diesen Fall Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU es einem Mitgliedstaat verbietet, diese Befugnis auszuüben, und dann folgerichtig gebietet, auf einen neuerlichen Asylantrag hin das Schutzbegehren erneut zur Sache zu prüfen (soweit keine anderweitigen Gründe für die Unzulässigkeit vorliegen). Dieser Umkehrschluss ist indes keineswegs eindeutig und zwingend, zumal der Gerichtshof Veranlassung gesehen haben mag, in seinem Urteil vom 19. März 2019 zu dieser Frage keine Stellung zu nehmen, und er insoweit auch nicht den Schlussantrag des Generalanwalts Wathelet vom 25. Juli 2018 in den verbundenen Rechtssachen C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 (Rn. 92, Rn. 123 Nr. 3) aufgegriffen hat. Auch das vorlegende Gericht hat bereits in seinem Beschluss vom 2. August 2017 - 1 C 2.17 - (Rn. 24) ausgeführt, dass es selbst in Fällen der außergewöhnlichen Situation einer drohenden Verletzung des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK nicht notwendig der Durchführung eines neuerlichen Asylverfahrens bedürfe; der Gefahr, eine gegen Art. 4 GRC verstoßende Behandlung zu erfahren, könne für den Ausländer hinreichend durch ein Verbot der Abschiebung in den Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung, die Erteilung einer (humanitären) Aufenthaltserlaubnis und der - zumindest partiellen oder temporären - Zubilligung von Rechten und Vorteilen, die zumindest seine Grundbedürfnisse deckt, Rechnung getragen werden. Bereits nach nationalem Recht ist in Deutschland eine Abschiebung (Rückführung) in den Herkunftsstaat bei Flüchtlingsanerkennung durch einen anderen Mitgliedstaat ausgeschlossen (§ 60 Abs. 1 AufenthG).

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Die aufrechterhaltene Frage ist für den Senat weiterhin entscheidungserheblich. Von ihrer Beantwortung hängt insbesondere ab, ob das Vorbringen eines Ausländers, der bereits in einem anderen Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt ist, er wäre für den Fall der Rückkehr in den Mitgliedstaat der Anerkennung tatsächlich der Gefahr ausgesetzt, eine gegen Art. 4 GRC verstoßende Behandlung zu erfahren, bereits bei der Überprüfung einer behördlichen Entscheidung, den Asylantrag ohne Sachprüfung als unzulässig zurückzuweisen, zu berücksichtigen ist oder dieses Vorbringen erst bei der Frage entscheidungserheblich wird, ob der Ausländer zur Ausreise in den Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung aufzufordern und gegebenenfalls dorthin abzuschieben ist.