BAG 10. Senat, EuGH-Vorlage vom 30.01.2019, 10 AZR 299/18 (A)

Das Urteil unter dem Aktenzeichen 10 AZR 299/18 (A) (BAG)

vom 30. Januar 2019 (Mittwoch)


Datenquelle: www.rechtsprechung-im-internet.de (Direktlink)

Wirksamkeit eines Kopftuchverbots

I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Fragen ersucht:

1. Kann eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion im Sinn von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens nur dann angemessen sein, wenn nach dieser Regel das Tragen jeglicher sichtbarer und nicht nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verboten ist?

2. Sofern die Frage zu 1. verneint wird:

a) Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen, dass die Rechte aus Art. 10 GRC und Art. 9 EMRK in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet?

b) Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen, dass nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, als günstigere Vorschriften im Sinn von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet?

3. Sofern die Fragen zu 2a) und 2b) verneint werden:

Müssen nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, in der Prüfung einer Weisung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet, wegen primären Unionsrechts unangewendet bleiben, auch wenn primäres Unionsrecht, wie zum Beispiel Art. 16 GRC, einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkennt?

II. Das Revisionsverfahren wird bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78/EG), auch unter Berücksichtigung von Art. 10 und Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sowie Art. 9 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Konvention).

2

A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

3

Die Parteien streiten im Kern darüber, ob die Weisung, am Arbeitsplatz kein sogenanntes islamisches Kopftuch zu tragen, rechtmäßig ist.

4

Die Beklagte ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach deutschem Recht. Sie betreibt in Deutschland Drogeriemärkte. Die Klägerin ist gläubige Muslima. Sie ist bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin seit dem Jahr 2002 als Verkaufsberaterin und Kassiererin in der Filiale Ansbach beschäftigt.

5

Nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit im Jahr 2014 trug sie - anders als zuvor - ein Kopftuch. Sie kam der Aufforderung der Beklagten, das Kopftuch am Arbeitsplatz abzulegen, nicht nach. Daraufhin wurde sie nicht mehr beschäftigt. Später versah die Klägerin eine andere Tätigkeit. Dabei musste sie ihr Kopftuch nicht ablegen. Am 21. Juni 2016 wurde sie aufgefordert, das Kopftuch abzulegen. Nachdem sie dies abgelehnt hatte, wurde sie nach Hause geschickt. Im Juli 2016 erhielt sie die Weisung, ohne auffällige großflächige religiöse, politische und sonstige weltanschauliche Zeichen am Arbeitsplatz zu erscheinen.

6

Die Klägerin beruft sich darauf, dass sie das Kopftuch ausschließlich trage, um ein religiöses Gebot zu erfüllen. Sie empfinde das islamische Bedeckungsgebot als zwingend. Sie bestreitet die unternehmensweite Geltung der Regel und hält die darauf gestützte Weisung für unwirksam. Nach ihrer Auffassung könne sie sich auf die verfassungsrechtlich geschützte Religionsfreiheit berufen. Dem auf der unternehmerischen Freiheit beruhenden Wunsch einer Neutralitätspolitik komme kein unbedingter Vorrang vor der Religionsfreiheit zu. Vielmehr sei eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) stehe dem nicht entgegen. Das Unionsrecht enthalte lediglich Mindestanforderungen. Auch eine danach zulässige Ungleichbehandlung könne nach nationalem Recht unzulässig sein.

7

Mit ihrer Klage will die Klägerin festgestellt wissen, dass die Weisung der Beklagten, ohne Kopftuch zu arbeiten, unwirksam ist. Ferner verlangt sie Vergütung.

8

Die Beklagte hält die Weisung für rechtmäßig. Sie behauptet, dass bei ihr seit jeher eine Kleiderordnung gelte, nach der unter anderem Kopfbedeckungen aller Art nicht am Arbeitsplatz getragen werden dürften. Seit Juli 2016 gelte für alle Verkaufsfilialen die Regel, nach der das Tragen auffälliger großflächiger religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Zeichen am Arbeitsplatz verboten sei. Ziel der Beklagten sei es, im Unternehmen Neutralität zu wahren. Unter anderem sollten Konflikte unter den Beschäftigten vermieden werden. Zu solchen Problemen, die auf die unterschiedlichen Religionen und Kulturen zurückzuführen seien, sei es in der Vergangenheit bereits in drei Fällen gekommen. Sie hingen nicht mit dem Tragen eines Kopftuchs oder eines anderen religiösen Zeichens zusammen.

9

Die Beklagte stützt sich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Sache Achbita gegen G4S Secure Solutions (EuGH 14. März 2017 - C-157/15 -, im Folgenden entsprechend der Bezeichnung des Gerichtshofs G4S Secure Solutions). Für ein wirksames Bekundungsverbot sei es nicht erforderlich darzulegen, dass wirtschaftliche Nachteile einträten und Kunden ausblieben. Der Gerichtshof habe der durch Art. 16 der Charta geschützten unternehmerischen Freiheit größeres Gewicht als der Religionsfreiheit eingeräumt. Ein abweichendes Ergebnis könne durch nationale Grundrechte nicht gerechtfertigt werden.

10

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte die Abweisung der Klage weiter.

11

B. Einschlägiges nationales Recht

12

I. Verfassungsrecht

13

1. Art. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 13. Juli 2017 (BGBl. I S. 2347) lautet:

        

„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

        

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

        

…“    

14

2. In Art. 12 GG ist geregelt:

        

„(1) 1Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. 2Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.

        

…“    

15

II. Gesetzliche Vorschriften

16

1. In § 134 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I 2002 S. 42, berichtigt S. 2909 und BGBl. I 2003 S. 738) heißt es:

        

„§ 134

        

Gesetzliches Verbot

        

Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“

17

2. § 106 der Gewerbeordnung (GewO) in der Fassung des Gesetzes vom 24. August 2002 (BGBl. I S. 3412) regelt unter der Überschrift „Weisungsrecht des Arbeitgebers“:

        

1Der Arbeitgeber kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. 2Dies gilt auch hinsichtlich der Ordnung und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb. 3Bei der Ausübung des Ermessens hat der Arbeitgeber auch auf Behinderungen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen.“

18

3. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897) regelt auszugsweise:

19

a) In § 1 AGG wird das Ziel des Gesetzes benannt. Dort heißt es:

        

„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“

20

b) § 3 AGG lautet:

        

„§ 3  

        

Begriffsbestimmungen

        

...     

        

(2) Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.

        

…“    

21

c) In § 7 AGG ist unter der Überschrift „Benachteiligungsverbot“ geregelt:

        

„(1) Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.

        

…“    

22

C. Einschlägiges Unionsrecht

23

I. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12. Dezember 2007 (ABl. C 303 S. 1) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Juni 2016 (ABl. C 202 S. 389)

24

1. Art. 10 der Charta lautet:

        

„Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

        

(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.

        

…“    

25

2. In Art. 16 der Charta heißt es unter der Überschrift „Unternehmerische Freiheit“:

        

„Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.“

26

II. Richtlinie 2000/78/EG

27

1. In Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG heißt es:

        

„Der Begriff ‚Diskriminierung‘

        

(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.

        

(2) Im Sinne des Absatzes 1

        

a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;

        

b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:

                 

i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, oder

                 

…“    

28

2. In Art. 8 der Richtlinie 2000/78/EG ist unter der Überschrift „Mindestanforderungen“ geregelt:

        

„(1) Die Mitgliedstaaten können Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.

        

(2) Die Umsetzung dieser Richtlinie darf keinesfalls als Rechtfertigung für eine Absenkung des von den Mitgliedstaaten bereits garantierten allgemeinen Schutzniveaus in Bezug auf Diskriminierungen in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen benutzt werden.“

29

D. Einschlägiges Völkerrecht

30

Art. 9 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 in der Neufassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II S. 1198), geändert durch Gesetz zu dem Protokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 zur Änderung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 2. Dezember 2014 (BGBl. II S. 1034) lautet:

        

„Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

        

(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

        

(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

31

E. Rechtsprechung

32

I. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

33

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass das Verbot eines privaten Arbeitgebers, Zeichen religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, einen Eingriff in das durch Art. 9 der Konvention geschützte Recht der Arbeitnehmer darstellt, ihre Religion zu bekennen. Das Tragen religiöser Kleidung, etwa eines Kopftuchs, ist als Religionsbekenntnis ein von Art. 9 der Konvention geschütztes Verhalten (EGMR 18. September 2018 - 3413/09 - [Lachiri gegen Belgien] Rn. 31; 15. Januar 2013 - 48420/10, 59842/10, 51671/10, 36516/10 - [Eweida ua. gegen Vereinigtes Königreich] Rn. 80; 10. November 2005 - 44774/98 - [ Ş ahin gegen Türkei] Rn. 78). Das Kopftuchverbot eines privaten Arbeitgebers stellt einen dem Konventionsstaat nicht unmittelbar zuzurechnenden Eingriff dar. Die damit befassten staatlichen Gerichte haben das Recht aus Art. 9 der Konvention ausreichend zu schützen und einen gerechten Ausgleich zwischen den Rechten der Betroffenen und denen der anderen herzustellen. Bei einer Kleiderordnung ist das Recht der Arbeitnehmer, ihren Glauben zu bekennen, mit dem Anliegen des Arbeitgebers, ein bestimmtes Unternehmensbild zu vermitteln, abzuwägen (EGMR 15. Januar 2013 - 48420/10, 59842/10, 51671/10, 36516/10 - [Eweida ua. gegen Vereinigtes Königreich] Rn. 84, 91, 94).

34

II. Bundesverfassungsgericht (BVerfG)

35

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fällt das Tragen eines islamischen Kopftuchs in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Die Regelung in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht, das sich auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, ebenso erstreckt wie auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben. Vom Schutz umfasst sind damit auch Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens. Dazu gehört das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben. Erfasst sind nicht nur imperative Glaubenssätze (vgl. BVerfG 27. Juni 2017 - 2 BvR 1333/17 - Rn. 38; 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11 - Rn. 58; 27. Januar 2015 - 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 - Rn. 85 mwN, BVerfGE 138, 296). Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG steht in enger Beziehung zum höchsten nationalen Verfassungswert der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - zu B II 5 a der Gründe mwN, BVerfGE 108, 282).

36

2. Im Weg der mittelbaren Drittwirkung wirkt dieser grundrechtliche Schutz auch auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen ein. Die Grundrechte sind von den Fachgerichten, insbesondere über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen. Die Grundrechte entfalten hierbei ihre Wirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und strahlen als „Richtlinien“ in das Zivilrecht ein. Die Freiheit der einen ist mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz in Ausgleich zu bringen. Die Reichweite der mittelbaren Grundrechtswirkung hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfG 11. April 2018 - 1 BvR 3080/09 - Rn. 32 f.; zu der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit BVerfG 30. Juli 2003 - 1 BvR 792/03 - zu B II 1 b der Gründe, BVerfGK 1, 308).

37

3. Nach diesen Grundsätzen geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass sich Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, auch bei der Ausübung ihres Berufs auf den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG berufen können. Unerheblich ist danach, dass im Islam unterschiedliche Auffassungen zum sogenannten Bedeckungsgebot vertreten werden, weil die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung hinreichend plausibel ist (vgl. BVerfG 27. Juni 2017 - 2 BvR 1333/17 - Rn. 38 f. [angestellte Rechtsreferendarin im öffentlichen Dienst]; 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11 - Rn. 57, 59 [angestellte Erzieherin in einer öffentlichen Kindertagesstätte]; 27. Januar 2015 - 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 - Rn. 87 ff. mwN, BVerfGE 138, 296 [angestellte Sozialpädagogin und angestellte Lehrerin in öffentlichen Schulen]; 30. Juli 2003 - 1 BvR 792/03 - zu B II 1 b der Gründe, BVerfGK 1, 308 [angestellte Verkäuferin]).

38

4. Ein Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild, namentlich das Tragen religiös konnotierter Kleidung, erweist sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts als unverhältnismäßig im engeren Sinn, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist und das Verbot nicht voraussetzt, dass zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegt (vgl. BVerfG 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11 - Rn. 61; 27. Januar 2015 - 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 - Rn. 101, BVerfGE 138, 296).

39

III. Bundesarbeitsgericht (BAG)

40

1. Wie das Bundesverfassungsgericht verlangt das Bundesarbeitsgericht eine Abwägung der kollidierenden Grundrechte von Arbeitnehmer und Arbeitgeber auch dann, wenn es sich um einen privaten Arbeitgeber handelt. Dieser muss einen ihm offenbarten und beachtlichen Glaubens- oder Gewissenskonflikt seines Arbeitnehmers bei der Ausübung des Weisungsrechts berücksichtigen. Das bei der Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts zu wahrende billige Ermessen - jetzt in § 106 Satz 1 GewO kodifiziert - wird inhaltlich durch die Grundrechte des Arbeitnehmers mitbestimmt. Kollidieren sie mit dem Recht des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer im Rahmen der durch Art. 12 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten unternehmerischen Betätigungsfreiheit eine von der vertraglichen Vereinbarung gedeckte Tätigkeit zuzuweisen, sind die gegensätzlichen Rechtspositionen grundrechtskonform auszugleichen. Dabei sind die kollidierenden Grundrechte in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass sie im Sinn einer praktischen Konkordanz für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (BAG 24. Februar 2011 - 2 AZR 636/09 - Rn. 22 f., BAGE 137, 164; 10. Oktober 2002 - 2 AZR 472/01 - zu B II 3 c der Gründe mwN, BAGE 103, 111).

41

2. Das Bundesarbeitsgericht verlangt von dem insoweit darlegungspflichtigen Arbeitgeber den Vortrag von Tatsachen realer Gefährdungen, die darin liegen, dass es bei dem weiteren Einsatz einer Arbeitnehmerin als Verkäuferin mit einem islamischen Kopftuch zu konkreten betrieblichen Störungen oder wirtschaftlichen Einbußen käme. Bloße Vermutungen und Befürchtungen genügen nicht, insbesondere weil bei der Herbeiführung eines schonenden Ausgleichs der unterschiedlichen grundrechtlichen Positionen zu berücksichtigen ist, dass Grundrechte nicht auf einen möglichen „Verdacht“ hin beiseitegestellt werden können (BAG 10. Oktober 2002 - 2 AZR 472/01 - zu B II 3 c bb der Gründe, BAGE 103, 111).

42

F. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erläuterung der Vorlagefragen

43

I. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs

44

1. Die Weisung der Beklagten, wonach die Klägerin nur ohne Kopftuch arbeiten dürfe, ist auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Die Beklagte beruft sich für die der Klägerin erteilte Weisung auf eine allgemeine Anordnung, die unternehmensweit für alle Verkaufsfilialen gelten soll und die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet.

45

2. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers findet seine Grenzen nach § 106 Satz 1 GewO zum einen in den rechtlichen Rahmenbedingungen (Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarungen, Tarifvertrag, Gesetz) und zum anderen im billigen Ermessen (BAG 18. Oktober 2017 - 10 AZR 330/16 - Rn. 78, BAGE 160, 296). Das Direktionsrecht des Arbeitgebers und seine Ausübung werden durch gesetzliche Verbote beschränkt (BAG 15. September 2009 - 9 AZR 757/08 - Rn. 35, BAGE 132, 88). Zu den Verbotsgesetzen in diesem Sinn zählt § 7 AGG, der Benachteiligungen wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes verbietet (vgl. für eine Kündigung BAG 26. März 2015 - 2 AZR 237/14 - Rn. 32, BAGE 151, 189; BeckOK ArbR/Roloff Stand 1. Dezember 2018 AGG § 7 vor Rn. 1). Damit sind Benachteiligungen wegen der Religion verboten. Der Begriff der Benachteiligung ist in § 3 AGG definiert. Stellt eine Weisung eine Benachteiligung iSv. § 7 iVm. §§ 1, 3 AGG dar, sind die Grenzen des eingeräumten Weisungsrechts überschritten; die Weisung ist nach § 134 BGB unwirksam. Der Senat muss deshalb prüfen, ob die Weisung und die ihr zugrunde liegende allgemeine Anordnung eine Ungleichbehandlung iSv. § 3 AGG darstellen und diese Ungleichbehandlung zu einer unzulässigen Benachteiligung führt.

46

3. Wahrt eine Weisung die rechtlichen Rahmenbedingungen, ist weiter erforderlich, dass sie billigem Ermessen entspricht. Die Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen verlangt eine Abwägung der wechselseitigen Interessen nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit. In die Abwägung sind alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen (BAG 18. Oktober 2017 - 10 AZR 330/16 - Rn. 45, BAGE 160, 296).

47

4. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die Weisung und die ihr zugrunde liegende Regel, auf die sich die Beklagte beruft, eine unzulässige Benachteiligung wegen der Religion iSv. § 3 Abs. 2 AGG und eine unzulässige Einschränkung der durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützten Religionsfreiheit darstellen. § 3 Abs. 2 AGG wurde erlassen, um Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG umzusetzen. Für das Verständnis von § 3 Abs. 2 AGG kommt es daher auf die Auslegung von Vorschriften dieser Richtlinie sowie der Charta an.

48

II. Erläuterung der ersten Vorlagefrage (Frage zu 1.)

49

Die erste Vorlagefrage betrifft die Prüfung, unter welchen Voraussetzungen eine allgemeine Regel, die das Tragen von Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet, geeignet ist, das Ziel einer unternehmerischen Neutralitätspolitik zu verfolgen.

50

1. Aus Sicht des Senats ist mit der auf einer allgemeinen Regel beruhenden Weisung eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion iSv. § 3 Abs. 2 AGG und Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG verbunden.

51

a) Eine mittelbare auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG liegt vor, wenn eine dem Anschein nach neutrale Verpflichtung tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden.

52

b) Die Klägerin wird durch die auf einer allgemeinen Regel beruhende Weisung wegen der Religion ungleichbehandelt.

&l