BVerfG 2. Senat, Beschluss vom 29.01.2019, 2 BvC 62/14

Das Urteil unter dem Aktenzeichen 2 BvC 62/14 (BVerfG)

vom 29. Januar 2019 (Dienstag)


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Verfassungswidrigkeit der Wahlrechtsausschlüsse nach § 13 Nr 2 BWahlG (Personen unter dauerhafter Vollbetreuung) sowie § 13 Nr 3 BWahlG (gem §§ 20, 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachte) - jeweils Verletzung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl (Art 38 Abs 1 S 1 GG) sowie des Benachteiligungsverbots  (Art 3 Abs 3 S 2 GG) - zu den Grenzen differenzierender gesetzlicher Typisierungen

1. § 13 Nummer 2 des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz - BtG) vom 12. September 1990 (Bundesgesetzblatt I Seite 2002) ist mit Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 und Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes unvereinbar.

2. § 13 Nummer 3 des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 8. März 1985 (Bundesgesetzblatt I Seite 521) ist mit Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 und Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

3. Der Ausschluss vom Wahlrecht der Beschwerdeführer zu 1., 2., 4. und 5. gemäß § 13 Nummer 2 des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz - BtG) vom 12. September 1990 (Bundesgesetzblatt I Seite 2002) und der Beschwerdeführer zu 6. bis 8. gemäß § 13 Nummer 3 des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 8. März 1985 (Bundesgesetzblatt I Seite 521) bei der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 verletzt die Beschwerdeführer zu 1., 2. und 4. bis 8. in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 und in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes.

4. Hinsichtlich des Beschwerdeführers zu 3. wird die Wahlprüfungsbeschwerde als unzulässig verworfen.

5. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern zu 1., 2. und 4. bis 8. ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

A.

1

Die Wahlprüfungsbeschwerde betrifft die Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses der Beschwerdeführer von der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 gemäß § 13 Nr. 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes (BWahlG).

I.

2

§ 13 Nr. 2 BWahlG normiert einen Wahlrechtsausschluss von Personen, für die ein Betreuer in allen Angelegenheiten bestellt ist. § 13 Nr. 3 BWahlG schließt Personen vom Wahlrecht aus, die wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Tat in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Im Einzelnen hat § 13 BWahlG hat folgenden Wortlaut:

Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist,

1. wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt,

2. derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfaßt,

3. wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuches in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet.

3

1. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gibt es im Wahlrecht zum Deutschen Bundestag einschränkende Regelungen betreffend Personen mit psychischen Beeinträchtigungen. So war gemäß § 2 Nr. 1 BWahlG in der Fassung vom 15. Juni 1949 (BGBl I S. 21) vom Wahlrecht ausgeschlossen, wer entmündigt war oder unter vorläufiger Vormundschaft oder wegen geistiger Gebrechen unter Pflegschaft stand. Gemäß § 3 BWahlG in der Fassung vom selben Tag ruhte die Wahlberechtigung für Personen, die wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht waren. Diese Tatbestände wurden unter Beibehaltung des jeweiligen Wortlauts in § 13 Nr. 1, § 14 Nr. 1 BWahlG in der Fassung vom 7. Juli 1972 (BGBl I S. 1100) überführt. Durch das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 24. Juni 1975 (BGBl I S. 1593) wurde die Unterscheidung zwischen dem Ausschluss vom Wahlrecht und dem Ruhen des Wahlrechts abgeschafft. Es verblieb allein der Wahlrechtsausschluss. Nach § 13 Nr. 2 BWahlG in der Fassung von diesem Tag war vom Wahlrecht ausgeschlossen, wer entmündigt war oder wegen geistiger Gebrechen unter Pflegschaft stand.

4

§ 13 Nr. 2 BWahlG erhielt seine gegenwärtige Fassung durch das Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz - BtG) vom 12. September 1990 (BGBl I S. 2002). Danach setzt der Verlust des Wahlrechts nunmehr die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betreuten nicht nur durch einstweilige Anordnung aufgrund § 1896 BGB voraus. Diese Vorschrift bestimmt in der derzeit gültigen Fassung vom 17. Dezember 2008 (BGBl I S. 2586):

(1) Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. Den Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen. Soweit der Volljährige auf Grund einer körperlichen Behinderung seine Angelegenheiten nicht besorgen kann, darf der Betreuer nur auf Antrag des Volljährigen bestellt werden, es sei denn, dass dieser seinen Willen nicht kundtun kann.

(1a) Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt werden.

(2) Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist. Die Betreuung ist nicht erforderlich, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten, der nicht zu den in § 1897 Abs. 3 bezeichneten Personen gehört, oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können.

(3) Als Aufgabenkreis kann auch die Geltendmachung von Rechten des Betreuten gegenüber seinem Bevollmächtigten bestimmt werden.

(4) Die Entscheidung über den Fernmeldeverkehr des Betreuten und über die Entgegennahme, das Öffnen und das Anhalten seiner Post werden vom Aufgabenkreis des Betreuers nur dann erfasst, wenn das Gericht dies ausdrücklich angeordnet hat.

5

2. Eine Beschränkung der Wahlberechtigung von Personen, die sich im Maßregelvollzug befinden, wurde erstmals durch § 14 Nr. 2 BWahlG in der Fassung vom 7. Juli 1972 (BGBl I S. 1100) eingeführt. Danach ruhte das Wahlrecht für Personen, die aufgrund Richterspruchs zum Vollzug einer mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregel der Sicherung und Besserung untergebracht waren. Dieser Tatbestand wurde durch Art. 32 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) in der Fassung vom 2. März 1974 (BGBl I S. 469) auf Personen beschränkt, die nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht waren. Nachdem die Unterscheidung zwischen dem Ausschluss vom Wahlrecht und dem Ruhen des Wahlrechts durch das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 24. Juni 1975 (BGBl I S. 1593) abgeschafft worden war, war gemäß § 13 Nr. 3 BWahlG in der seitdem geltenden Fassung die Personengruppe der gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten vom Wahlrecht ausgeschlossen.

6

§ 13 Nr. 3 BWahlG erhielt seine geltende Fassung durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 8. März 1985 (BGBl I S. 521). Durch dieses Gesetz erfuhr der Ausschlusstatbestand eine Begrenzung auf diejenigen Personen, die sich wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit im Sinne von § 20 StGB begangenen Tat im Maßregelvollzug nach § 63 StGB befinden. § 63 StGB lautet in der derzeit gültigen Fassung vom 8. Juli 2016 (BGBl I S. 1610):

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

7

§ 20 StGB in der derzeit gültigen Fassung vom 4. Juli 1969 (BGBl I S. 717) trifft folgende Regelung:

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

8

3. Im Jahr 2011 beschloss die Bundesregierung, im Rahmen ihres Aktionsplans zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13.Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention - BRK) eine interdisziplinäre Studie zur tatsächlichen Situation behinderter Menschen bei der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts in Auftrag zu geben. Diese erschien in der Verantwortung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Juli 2016 als "Forschungsbericht 470 -Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderung" (im Folgenden: BMAS-Forschungsbericht 470).

9

Die Studie stellte auf der Basis einer Erhebung der Anzahl der Wahlrechtsausschlüsse gemäß § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG und der diesen zugrundeliegenden Krankheitsbilder (vgl. BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 39 ff.) in einem klinisch-psychologischen Teil die Perspektive der Betroffenen dar (vgl. Mühlig, in: BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 65 ff.) und skizzierte bestehende und mögliche Assistenzsysteme im internationalen Vergleich (vgl. BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 248 ff.). Im Mittelpunkt einer daran anschließenden völkerrechtlichen Analyse standen die Vorgaben der BRK (vgl. Schmalenbach, in: BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 135 ff.). In einem verfassungsrechtlichen Teil wurden § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG am Maßstab der Wahlrechtsgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und des Benachteiligungsverbots von Menschen mit Behinderungen (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) überprüft und für verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet (vgl. Lang, in: BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 171 ff.).

10

Im Ergebnis sprach sich die Studie gegen eine ersatzlose Streichung von § 13 Nr. 2 BWahlG aus, da dies zu einer Teilnahme entscheidungsunfähiger Personen an der Wahl führen könnte. Auch eine außerhalb des betreuungsrechtlichen Verfahrens angesiedelte eigenständige Prüfung der Wahlfähigkeit sei nicht zu empfehlen. Allerdings könne im Lichte der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland erwogen werden, im Betreuungsverfahren die fehlende Assistenzfähigkeit der in allen Angelegenheiten betreuten Person richterlich gesondert festzustellen und die Mitteilung über die Betreuerbestellung an die für die Führung des Wählerverzeichnisses zuständige Behörde als Ermessensentscheidung des Betreuungsrichters auszugestalten (vgl. BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 289 f.). Letzteres gelte auch für den Wahlrechtsausschluss gemäß § 13 Nr. 3 BWahlG (vgl. BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 290).

II.

11

Mit ihrer Wahlprüfungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer einen Verstoß der in Rede stehenden Wahlrechtsausschlüsse gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.

12

1. Für die Beschwerdeführer zu 1., 2., 4. und 5. waren im Zeitpunkt der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 Betreuer in allen Angelegenheiten bestellt, weshalb sie an dieser Wahl nicht teilnehmen durften. Für den Beschwerdeführer zu 3. wurde zunächst ein Betreuer in allen Angelegenheiten bestellt. Um einen Verlust seines Wahlrechts zu verhindern, wurde der Betreuungsbeschluss auf seinen Antrag hin abgeändert, woraufhin er an der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag teilnahm. Die Beschwerdeführer zu 6. bis 8. waren im Zeitpunkt der angegriffenen Wahl gemäß § 63 in Verbindung mit § 20 StGB im Maßregelvollzug untergebracht, weshalb sie von einer Teilnahme an der angegriffenen Wahl ausgeschlossen waren.

13

2. Die Beschwerdeführer legten mit Schriftsatz vom 22. November 2013 Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag ein und machten geltend, dass die ihr Wahlrecht ausschließenden Tatbestände in § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG gegen die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verstießen. Zwar unterliege das Wahlrecht als demokratisches Kerngrundrecht keinem absoluten Differenzierungsverbot. Für Differenzierungen sei aber ein besonderer Grund nötig, der durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sein müsse. Die in Rede stehenden Wahlrechtsausschlüsse ließen sich weder auf einen zulässigen Differenzierungsgrund stützen, noch seien sie mit höherrangigem Recht vereinbar.

14

Ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht könne nur dann gerechtfertigt sein, wenn eine bestimmte Personengruppe keine hinreichende Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen habe. Die § 13 Nr. 2 BWahlG zugrundeliegende Annahme, dass Menschen mit Behinderungen, die in allen Angelegenheiten betreut würden, keine Einsicht in Wesen und Bedeutung von Wahlen hätten, sei aber nicht gerechtfertigt und unvereinbar mit der heutigen Sicht auf diese Menschen. Demgemäß "seien" Menschen nicht von vornherein "behindert", sondern "würden behindert". Erst durch die Beschränkung von Teilhabe und Selbstbestimmung entstehe Behinderung. Ebenso sei die Annahme, Schuldunfähigen fehle ein Mindestmaß an Einsichts- und Wahlfähigkeit, empirisch nicht haltbar. Zudem gehe sie von Rechts wegen fehl, da § 20 StGB nicht nur auf das Fehlen der Einsichts-, sondern alternativ auf das Fehlen der Steuerungsfähigkeit abstelle. Aus § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG folge ein Wahlrechtsverlust, obwohl in dem zugrundeliegenden Betreuungs- oder Strafverfahren die Frage der Einsichtsfähigkeit in Wesen und Bedeutung von Wahlen beziehungsweise der Möglichkeit der Teilnahme am politischen Kommunikationsprozess keine Rolle spiele.

15

Bei der Auslegung von § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG seien Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls der EMRK (EMRKZusProt) sowie Art. 29 BRK heranzuziehen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe festgestellt, dass ganze Bevölkerungsgruppen nicht unterschiedslos vom Wahlrecht ausgeschlossen werden dürften. Dabei sei der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers besonders eng, wenn es um Gruppen gehe, die wie die geistig Behinderten besonders verletzlich und in der Vergangenheit deutlicher Diskriminierung ausgesetzt gewesen seien. Art. 29 BRK verpflichte die Vertragsstaaten, zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen effektiv und vollständig gleichberechtigt am politischen und öffentlichen Leben teilhaben könnten. Dies beinhalte auch eine Garantie des Wahlrechts. Gleiches folge aus Art. 12 Abs. 2 BRK.

16

Die typisierende Ausgestaltung des Wahlrechtsausschlusses in § 13 Nr. 2 BWahlG verletze außerdem Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, da sie ein nicht zu rechtfertigendes Maß an Ungleichbehandlung mit sich bringe. Es gebe Personengruppen, die nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen seien, obwohl sie in ihren Beeinträchtigungen mit Vollbetreuten vergleichbar seien. Dies gelte etwa, wenn bei vergleichbarer Betreuungsbedürftigkeit die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten wegen des Vorliegens einer Vorsorgevollmacht oder bei ausreichender Unterstützung einer Person in ihrem sozialen Umfeld unterbleibe. Außerdem sei die Entscheidung, ob eine Betreuung in allen oder in vielen, enumerativ aufgezählten Aufgabenbereichen erfolge, in der Praxis von Zufälligkeiten abhängig. Auch der Wahlrechtsausschluss in § 13 Nr. 3 BWahlG führe zu willkürlichen Ungleichbehandlungen. So könnten Schuldunfähige (§ 20 StGB) nicht nur gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus, sondern gemäß § 64 StGB auch in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden, ohne ihr Wahlrecht zu verlieren. Vermindert Schuldfähige (§ 21 StGB) könnten ebenfalls gemäß § 63 StGB untergebracht werden, ohne dass dies zu einem Wahlrechtsausschluss führe, wobei die Abgrenzung zwischen § 20 StGB und § 21 StGB im Einzelfall schwierig und fließend sei. Auch dürften gemäß § 63 StGB Untergebrachte in einigen Ländern zwar nicht an Bundestags- und Europawahlen, wohl aber an Landtags- oder Kommunalwahlen teilnehmen.

17

3. Mit Beschluss vom 9. Oktober 2014 nahm der Deutsche Bundestag die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 25. September 2014 (BTDrucks 18/2700, S. 43 ff.) an und wies den Wahleinspruch der Beschwerdeführer zurück. Es entspreche geltendem Wahlrecht, dass diejenigen, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt sei, und diejenigen, die sich aufgrund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus befänden, gemäß § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG von der Teilnahme an der Bundestagswahl ausgeschlossen seien. Die Wahlbehörden dürften von diesen gesetzlichen Vorgaben nicht abweichen. Soweit die Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit des § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG rügten, sei zu beachten, dass der Wahlprüfungsausschuss und der Deutsche Bundestag in ständiger Praxis im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens die Verfassungsmäßigkeit von Wahlrechtsvorschriften nicht überprüften. Eine derartige Kontrolle sei stets dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Abgesehen davon seien die verfassungsrechtlichen Bedenken der Beschwerdeführer unbegründet.

18

4. Mit ihrer hiergegen erhobenen Wahlprüfungsbeschwerde beantragen die Beschwerdeführer festzustellen, dass durch den Wahlrechtsausschluss ihre Rechte verletzt wurden und dass § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unvereinbar und deshalb nichtig seien. Es liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG vor, da diese Wahlrechtsausschlüsse an zur Feststellung fehlender Kommunikationsfähigkeit ungeeignete Tatbestände anknüpften und willkürliche Typisierungen vornähmen. Gleichzeitig sei ein Verstoß gegen völkerrechtliche Verpflichtungen gegeben, die zumindest im Wege der völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG Beachtung finden müssten. Überdies ergebe sich aus den im Wahleinspruch dargelegten Gründen ein eigenständiger Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.

III.

19

Dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, dem Bundesministerium des Innern, dem Bundeswahlleiter, dem Statistischen Bundesamt, den im Bundestag vertretenen Parteien und dem Deutschen Institut für Menschenrechte ist Gelegenheit gegeben worden, zu der Wahlprüfungsbeschwerde Stellung zu nehmen. Hiervon hat allein das Deutsche Institut für Menschenrechte Gebrauch gemacht. Für den Bundestag hat der Rechtsausschuss eine Stellungnahme nach der Vorlage des BMAS-Forschungsberichts 470 in Aussicht gestellt und eine angemessene Frist zu dessen Auswertung erbeten. Ungeachtet dessen ist eine Stellungnahme nicht abgegeben worden.

20

Das Deutsche Institut für Menschenrechte bewertet die Wahlrechtsausschlüsse gemäß § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG als Verstoß gegen Art. 29 lit. a in Verbindung mit Art. 12 BRK. Art. 29 BRK gewährleiste Menschen mit Behinderungen das Wahlrecht unabhängig von Art und Schwere einer Beeinträchtigung. Jede Einschränkung dieses Rechts sei als unzulässige Diskriminierung zu qualifizieren.

21

Das Wahlrecht stelle eine spezielle Form der rechtlichen Handlungsfähigkeit dar, die Menschen mit Behinderungen in Art. 12 Abs. 2 BRK umfassend und "in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen" garantiert werde. Dabei komme es nicht darauf an, ob eine Person ein Recht tatsächlich ausüben oder in einem bestimmten Sinne nutzen werde. Auch Art. 12 Abs. 4 BRK rechtfertige keine behindertenspezifischen Einschränkungen der rechtlichen Handlungsfähigkeit. Die dort genannten "Sicherungen" seien ausschließlich darauf gerichtet, die Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen zu unterstützen. Sicherungszwecke, die außerhalb der Person lägen und etwa das Ziel verfolgten, die Funktionsfähigkeit einer Wahl zu gewährleisten, würden von der Vorschrift nicht umfasst.

22

Außerdem fehle es an objektiven und sachlichen Gründen für die streitgegenständlichen Wahlrechtsausschlüsse. § 13 Nr. 2 BWahlG stehe bereits der Umstand entgegen, dass das Betreuungsrecht nicht zu einem Verlust der Geschäftsfähigkeit führe und das Ziel verfolge, Menschen als vollwertige Mitglieder in der Rechtsgemeinschaft zu behalten. Die rechtliche Betreuung beziehe sich nicht auf höchstpersönliche Angelegenheiten. Das Betreuungsgericht befasse sich nicht mit den individuellen Voraussetzungen für die Ausübung des Wahlrechts. Der Rückschluss von den medizinisch geprägten Diagnosegruppen und Krankheitsbildern auf den Wunsch und die Präferenzen zur politischen Meinungsbildung und Teilhabe an einer Wahl sei nicht möglich. Hinzu kämen erhebliche Wertungswidersprüche, da Personen mit vergleichbarer Diagnose, die keine Betreuung in allen Angelegenheiten hätten, nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen seien und im Ländervergleich bei der Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten "extreme Disparitäten" bestünden.

23

Auch im Fall des § 13 Nr. 3 BWahlG fehle es an einer individuellen Prüfung der Voraussetzungen für die Ausübung des Wahlrechts. Das Vorliegen der Schuldunfähigkeit in einer bestimmten Situation sage hierüber nichts aus. Darüber hinaus bestünden auch in diesem Fall gesetzliche Wertungswidersprüche, da Strafgefangene und Sicherungsverwahrte mit vergleichbarer Diagnose wahlberechtigt blieben und § 63 StGB im Ländervergleich "extrem disparat" angewendet werde.

B.

24

Die Wahlprüfungsbeschwerde ist hinsichtlich der Beschwerdeführer zu 1., 2. und 4. bis 8. zulässig. Hinsichtlich des Beschwerdeführers zu 3. ist sie hingegen unzulässig.

I.

25

Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundestages im Wahlprüfungsverfahren ergibt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 in Verbindung mit Art. 41 Abs. 2 und 3 GG, § 18 WahlPrüfG, § 13 Nr. 3, § 48 BVerfGG. Dem steht nicht entgegen, dass die Beschwerdeführer das Ziel, die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag überprüfen zu lassen, nicht weiterverfolgen, sondern den Gegenstand des vorliegenden Verfahrens auf eine Feststellung der Verletzung ihrer Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und der Nichtigkeit von § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG begrenzt haben. Seit Inkrafttreten von § 48 Abs. 1 und 3 BVerfGG in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen vom 12. Juli 2012 (BGBl I S. 1501) entscheidet das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde nicht mehr nur über die Gültigkeit einer Wahl zum Deutschen Bundestag oder den Verlust des Bundestagsmandats eines Abgeordneten. Vielmehr kann nun auch die Verletzung von Rechten einer wahlberechtigten Person oder einer Gruppe von wahlberechtigten Personen bei der Vorbereitung oder Durchführung der Wahl zum Deutschen Bundestag, soweit die Rechte der Wahlprüfung nach § 1 Abs. 1 WahlPrüfG unterliegen, zum alleinigen Gegenstand der Wahlprüfung gemacht werden.

26

Das Bundesverfassungsgericht ist dabei auch für die von den Beschwerdeführern begehrte Feststellung der Nichtigkeit von § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG zuständig. Es kann im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde nicht nur die Einhaltung der Vorschriften des Bundeswahlrechts durch die zuständigen Wahlorgane und den Deutschen Bundestag prüfen, sondern auch, ob die Vorschriften des Bundeswahlgesetzes mit den Vorgaben der Verfassung in Einklang stehen (vgl. BVerfGE 16, 130 <135 f.>; 121, 266 <295>; 123, 39 <68>; 132, 39 <47 Rn. 22>).

II.

27

Die Beschwerdeführer zu 1., 2. und 4. bis 8. sind trotz ihres Ausschlusses vom Wahlrecht beschwerdefähig. Zwar kann nach dem Wortlaut von § 48 Abs. 1 BVerfGG nur eine "wahlberechtigte Person" Wahlprüfungsbeschwerde erheben. Dies steht der Beschwerdefähigkeit aber nicht entgegen, wenn die Frage der Wahlberechtigung gerade Gegenstand der Beschwerde ist, da andernfalls eine materiell-rechtliche Überprüfung der Wahlberechtigung überhaupt nicht möglich wäre. Folglich ist die Frage der Wahlberechtigung im Rahmen der Zulässigkeit einer solchen Wahlprüfungsbeschwerde als gegeben zu unterstellen (vgl. BVerfGE 132, 39 <44 Rn. 12, 46 Rn. 20>). Die Beschwerdefähigkeit des Beschwerdeführers zu 3. steht nicht in Frage, weil er bei der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag wahlberechtigt war.

III.

28

Die Beschwerdeführer zu 1., 2. und 4. bis 8. sind beschwerdebefugt (1.). Dies gilt nicht für den Beschwerdeführer zu 3. (2.).

29

1. Die Beschwerdeführer zu 1., 2. und 4. bis 8. sind beschwerdebefugt, da sie eine Verletzung eigener Rechte in einer Weise dargetan haben, die eine solche nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen lässt. Dabei ist es unschädlich, dass sie in ihrer Wahlprüfungsbeschwerde nicht ausgeführt haben, ob der gerügte Wahlfehler Einfluss auf die Mandatsverteilung haben kann und die angegriffene Bundestagswahl daher für ungültig zu erklären ist.

30

a) Das Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde nach § 48 BVerfGG war ursprünglich als ein rein objektives Beanstandungsverfahren ausgestaltet, bei dem die Darlegung einer Beschwerdebefugnis nicht erforderlich war (vgl. Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 19). Vielmehr erforderte eine zulässige Wahlprüfungsbeschwerde einen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG hinreichend substantiierten und aus sich heraus verständlichen Sachvortrag, aus dem erkennbar war, worin ein Wahlfehler liegen sollte, der Einfluss auf die Mandatsverteilung haben konnte (vgl. BVerfGE 40, 11 <30>; 48, 271 <276>; 58, 175 <175 f.>; 122, 304 <308 f.>).

31

Nach der Neufassung des § 48 BVerfGG durch Art. 3 des Gesetzes zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen vom 12. Juli 2012 (BGBl I S. 1501), durch die erstmals explizit die Möglichkeit der Feststellung der Verletzung eigener Rechte im Wahlprüfungsverfahren eröffnet worden ist, bedarf es bei einer ausschließlichen Rüge der Verletzung subjektiver Wahlrechte einer substantiierten Darlegung der Mandatsrelevanz des geltend gemachten Wahlfehlers nicht mehr. Mit der Neuregelung zielt der Gesetzgeber darauf ab, dem Bundesverfassungsgericht in den Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren, in denen die Wahl zum Deutschen Bundestag nicht für ungültig zu erklären ist, die Möglichkeit zu eröffnen, auf entsprechende Beschwerden hin die geltend gemachten Rechtsverletzungen zu klären und gegebenenfalls im Tenor seiner Entscheidung festzustellen (vgl. BTDrucks 17/9391, S. 11). Der Verzicht auf das Erfordernis der Darlegung der Mandatsrelevanz in Fällen der Geltendmachung subjektiver Wahlrechtsverletzungen entspricht dem Gebot effektiven Rechtsschutzes. Denn aufgrund der Exklusivität der Wahlprüfungsbeschwerde, wie sie in § 49 BWahlG kodifiziert ist und in der Rechtsprechung des Senats als verfassungskonform bestätigt wurde (vgl. BVerfGE 11, 329 <329>; 14, 154 <155>; 16, 128 <130>; 74, 96 <101>), sind Verfassungsbeschwerden, die Maßnahmen in Bezug auf eine konkrete Bundestagswahl zum Gegenstand haben, unzulässig. Da nicht jeder Wahlfehler, der subjektive Rechte verletzt, zugleich eine Auswirkung auf die Mandatsverteilung hat, entstünde eine erhebliche Rechtsschutzlücke, sofern man auch insoweit die Darlegung einer Mandatsrelevanz des gerügten Wahlfehlers für die Zulässigkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde erforderlich erachtete.

32

Der Verzicht auf die Darlegung einer möglichen Auswirkung des geltend gemachten Wahlfehlers auf die Mandatsverteilung entbindet den ausschließlich eine subjektive Rechtsverletzung rügenden Beschwerdeführer allerdings nicht von den Begründungspflichten aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 48 Abs. 1 Halbsatz 2 BVerfGG. Beschränkt der Beschwerdeführer die Wahlprüfungsbeschwerde auf die Geltendmachung einer subjektiven Rechtsverletzung, hat er die Möglichkeit einer Verletzung seines Wahlrechts substantiiert darzulegen.

33

b) Gemessen hieran sind die Beschwerdeführer zu 1., 2. und 4. bis 8. beschwerdebefugt. Die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Rechte haben sie substantiiert dargetan, indem sie geltend machen, die in Rede stehenden Wahlrechtsausschlüsse verstießen ohne hinreichenden Differenzierungsgrund gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Darüber hinaus haben sie die Möglichkeit eines eigenständigen Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG nachvollziehbar aufgezeigt. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Verletzung von Rechten der Beschwerdeführer bei der Durchführung der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag nicht von vornherein ausgeschlossen.

34

2. Dem Beschwerdeführer zu 3. fehlt es an der erforderlichen Beschwerdebefugnis. Er hat nach eigenem Vortrag an der Bundestagswahl teilgenommen, so dass eine durch einen Wahlrechtsausschluss bedingte Verletzung subjektiver Rechte von vornherein ausscheidet. Eine sonstige subjektive Rechtsverletzung hat er nicht dargelegt. Ebenso wenig stellt er die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag infrage.

IV.

35

Die Wahlprüfungsbeschwerde hat sich durch Ablauf der 18. Legislaturperiode nicht erledigt.

36

1. Der Ablauf einer Legislaturperiode führt jedenfalls dann zur Erledigung einer anhängigen Wahlprüfungsbeschwerde, wenn diese vorrangig auf die Feststellung der gesetzmäßigen Zusammensetzung des Bundestages gerichtet ist (vgl. BVerfGE 22, 277 <280 f.>; 34, 201 <203>; 122, 304 <306>). Nach ständiger Rechtsprechung bleibt das Bundesverfassungsgericht jedoch auch nach Auflösung des Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode befugt, die im Rahmen einer zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde erhobenen Rügen der Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen und wichtige wahlrechtliche Zweifelsfragen zu prüfen, wenn ein öffentliches Interesse an einer solchen Entscheidung besteht (vgl. BVerfGE 89, 291 <299>; 122, 304 <306>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 25. Februar 2010 - 2 BvC 6/07 -, juris, Rn. 9). Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich bei der Wahlprüfungsbeschwerde um ein primär objektives Verfahren mit Anstoßfunktion handelt (vgl. BVerfGE 122, 304 <306>). Dabei liegt ein fortbestehendes öffentliches Interesse an der Entscheidung einer Wahlprüfungsbeschwerde nach Ende der Legislaturperiode jedenfalls dann vor, wenn dem behaupteten Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGE 122, 304 <306>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 25. Februar 2010 - 2 BvC 6/07 -, juris, Rn. 10 m.w.N.). Dies ist bei der Rüge der Verfassungswidrigkeit wahlrechtlicher Vorschriften regelmäßig der Fall, da diese über die jeweilige Wahlperiode hinaus so lange Wirkung entfalten, bis sie vom Gesetzgeber geändert oder vom Bundesverfassungsgericht für nichtig oder für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt werden (vgl. BVerfGE 122, 304 <307>).

37

2. Gemessen hieran liegt ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Senats über die vorliegende Wahlprüfungsbeschwerde nach Ablauf der 18. Legislaturperiode vor. Die streitgegenständlichen Wahlrechtsausschlüsse haben nicht nur Bedeutung für die angegriffene Bundestagswahl und die verfahrensbeteiligten Beschwerdeführer. Vielmehr kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie auch bei künftigen Bundestagswahlen noch Wirkung entfalten. Zwar haben die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode ein "inklusives Wahlrecht für alle" angekündigt (vgl. Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, 12. März 2018, S. 95 Zeile 4380-4384). Ob dies jedoch zu einem vollständigen Wegfall der Wahlrechtsausschlüsse gemäß § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG führen wird, ist nicht ersichtlich.

38

3. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Entscheidung, ob einer Erledigung der vorliegenden Wahlprüfungsbeschwerde bereits entgegensteht, dass infolge der Subjektivierung des Rechtsschutzes im Wahlprüfungsverfahren durch das Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen vom 12. Juli 2012 (BGBl I S. 1501) die Feststellung einer subjektiven Rechtsverletzung als eigenständiger Prüfungsgegenstand neben die Feststellung der Gültigkeit der Bundestagswahl getreten ist, und ob diese Feststellung unabhängig vom Ablauf der Wahlperiode zu erfolgen hat (vgl. hierzu Misol, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 48 Rn. 57).

C.

39

Soweit die Wahlprüfungsbeschwerde zulässig ist, ist sie begründet. Die Wahlrechtsausschlüsse in § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG verstoßen gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Aufgrund der Verfassungswidrigkeit von § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG sind die Beschwerdeführer durch ihren hierauf beruhenden Ausschluss von der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag in ihren Rechten verletzt.

I.

40

Aus dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG (1.) und dem Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (2.) ergeben sich spezifische verfassungsrechtliche Anforderungen an die Zulässigkeit einfachgesetzlicher Wahlrechtsausschlüsse. Diese Vorgaben stehen im Einklang mit den völker- und europarechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland (3.).

41

1. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl garantiert das Recht aller Staatsbürger, zu wählen und gewählt zu werden (a). Schränkt der Gesetzgeber bei der Wahrnehmung des ihm in Art. 38 Abs. 3 GG zugewiesenen Gestaltungsauftrags den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ein, bedarf er hierfür Gründe, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht sind wie der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Hierbei ist er zu Vereinfachungen und Typisierungen befugt (b).

42

a) Die Allgemeinheit der Wahl sichert, wie die Gleichheit der Wahl, die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger bei der politischen Selbstbestimmung (vgl. BVerfGE 99, 1 <13>; 132, 39 <47 Rn. 24>). Deren Gleichbehandlung bezüglich der Fähigkeit, zu wählen und gewählt zu werden, ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung (vgl. BVerfGE 6, 84 <91>; 11, 351 <360>; 132, 39 <47 Rn. 24>). Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verbürgt - positiv - die aktive und passive Wahlberechtigung aller Staatsbürger (vgl. BVerfGE 36, 139 <141>; 58, 202 <205>; 132, 39 <47 Rn. 24>). Er fordert, dass grundsätzlich jeder sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben kann (vgl. BVerfGE 58, 202 <205>; 99, 69 <77 f.>). Er untersagt - negativ - den unberechtigten Ausschluss einzelner Staatsbürger von der Teilnahme an der Wahl (vgl. BVerfGE 36, 139 <141>; 58, 202 <205>) und verbietet den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen (vgl. BVerfGE 15, 165 <166 f.>; 36, 139 <141>; 58, 202 <205>). Er ist - wie der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit - im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit bei der Zulassung zur Wahl zum Deutschen Bundestag zu verstehen (vgl. BVerfGE 28, 220 <225>; 36, 139 <141>; 129, 300 <319>; 132, 39 <47 Rn. 24>) und schließt als spezialgesetzliche Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes in seinem Anwendungsbereich einen Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG aus (vgl. BVerfGE 99, 1 <8 ff.> sowie statt vieler Wollenschläger, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 1 Rn. 310).

43

b) aa) Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unterliegt keinem absoluten Differenzierungsverbot. Die Festlegung des Wahlalters in Art. 38 Abs. 2 GG rechtfertigt nicht den Gegenschluss, dass der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Regelungsbefugnis gemäß Art. 38 Abs. 3 GG nicht weitere Bestimmungen über die Zulassung zur Wahl treffen dürfte. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl, dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung nur ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen verbleibt. Differenzierungen hinsichtlich der aktiven oder passiven Wahlberechtigung bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets besonderer Gründe, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind (vgl. BVerfGE 42, 312 <340 f.>; 132, 39 <48 Rn. 25>; vgl. ebenso zur Gleichheit der Wahl BVerfGE 95, 408 <418>; 120, 82 <107>; 129, 300 <320>; 130, 212 <227 f.>), so dass sie als "zwingend" (vgl. BVerfGE 1, 208 <248 f.>; 95, 408 <418>; 121, 266 <297 f.>) qualifiziert werden können.

44

bb) Zu den Gründen, die geeignet sind, Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl und mithin Differenzierungen zwischen den Wahlberechtigten zu legitimieren, zählen insbesondere die mit demokratischen Wahlen verfolgten Ziele der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (vgl. BVerfGE 95, 408 <418>; 120, 82 <107>; 129, 300 <320 f.>; 132, 39 <50 Rn. 32>). Zum erstgenannten Ziel gehört die Sicherung der Kommunikationsfunktion der Wahl (vgl. BVerfGE 132, 39 <50 Rn. 32>).

45

Dem liegt zugrunde, dass Demokratie, soll sie sich nicht in einem rein formalen Zurechnungsprinzip erschöpfen, freie und offene Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten voraussetzt (vgl. BVerfGE 132, 39 <50 Rn. 33> m.w.N.). Dies gilt nicht nur für den Wahlakt selbst. Das Recht der Bürger auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußert sich auch in der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung (vgl. BVerfGE 20, 56 <98>; 69, 315 <346>; 132, 39 <51 Rn. 33>). Dem dienen die Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden Körperschaften (vgl. BVerfGE 44, 125 <147 f.>; 63, 230 <242 f.>; ferner BVerfGE 105, 252 <268 ff.>) sowie das freie Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, das die Rückkopplung zwischen Parlamentariern und Wahlvolk nicht aus-, sondern bewusst einschließt (vgl. BVerfGE 102, 224 <237 f.>; 112, 118 <134>). Nur auf dieser Grundlage kann der Wahlakt die ihm zugedachte integrative Wirkung entfalten. Ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht kann daher verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht (vgl. BVerfGE 132, 39 <51 Rn. 34>).

46

cc) Den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl mit kollidierenden Verfassungsbelangen zum Ausgleich zu bringen, ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 95, 408 <420>; 121, 266 <303>; 132, 39 <48 Rn. 26>). Das Bundesverfassungsgericht prüft insoweit lediglich, ob die Grenzen des eng bemessenen Spielraums des Gesetzgebers überschritten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>; 95, 408 <420>; 121, 266 <303 f.>; 132, 39 <48 Rn. 27>). Voraussetzung für eine Rechtfertigung von Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl ist, dass differenzierende Regelungen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sind (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <238>; 71, 81 <96>; 95, 408 <418>). Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich auch danach, mit welcher Intensität in das Wahlrecht eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 71, 81 <96>; 95, 408 <418>). Dabei hat sich der Gesetzgeber bei seinen Einschätzungen und Bewertungen nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfGE 7, 63 <75>; 82, 322 <344>; 95, 408 <418>). Bei der Prüfung, ob eine Beschränkung des Wahlrechts gerechtfertigt ist, ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 120, 82 <106>; 129, 300 <317, 320>; 132, 39 <48 Rn. 25>).

47

Allerdings ist der Gesetzgeber befugt, bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung unter Berücksichtigung der Grenzen, die die Bedeutung des Wahlrechts und die Strenge demokratischer Egalität seinem Bewertungsspielraum setzen, Vereinfachungen und Typisierungen vorzunehmen (vgl. BVerfGE 132, 39 <49 Rn. 28>). Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist er berechtigt, die Vielzahl der Einzelfälle in dem Gesamtbild zu erfassen, das nach den ihm vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte zutreffend wiedergibt (vgl. BVerfGE 11, 245 <254>; 78, 214 <227>; 84, 348 <359>; 122, 210 <232>; 126, 268 <278>). Auf dieser Grundlage darf er grundsätzlich generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen Gleichheitsgebote zu verstoßen (vgl. BVerfGE 84, 348 <359>; 113, 167 <236>; 126, 268 <278 f.>; stRspr). Das Wahlrecht gehört neben dem Steuerrecht und dem Sozialversicherungsrecht zu den Bereichen, für die die Zulässigkeit typisierender Regelungen von Massenerscheinungen grundsätzlich anerkannt ist.

48

Die Befugnis zur Typisierung bedeutet, dass Lebenssachverhalte im Hinblick auf wesentliche Gemeinsamkeiten normativ zusammengefasst und dabei Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt oder absehbar sind, generalisierend vernachlässigt werden dürfen (vgl. BVerfGE 132, 39 <49 Rn. 29>; 145, 106 <146 Rn. 107>; allgemein zur Typisierungsproblematik siehe Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung, 2008, S. 38 m.w.N.). Der Gesetzgeber darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 82, 159 <185 f.>; 96, 1 <6>; 145, 106 <146 Rn. 107>). Die gesetzlichen Verallgemeinerungen müssen allerdings von einer möglichst breiten, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließenden Beobachtung ausgehen (vgl. BVerfGE 122, 210 <232 f.>; 126, 268 <279>; 133, 377 <412 Rn. 87>). Insbesondere darf der Gesetzgeber für eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legen (vgl. BVerfGE 116, 164 <183>; 122, 210 <233>; 126, 268 <279>; 137, 350 <375 Rn. 66>; 145, 106 <146 Rn. 107>). Eine Typisierung ist außerdem nur zulässig, wenn die damit verbundenen Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären (vgl. BVerfGE 84, 348 <360>; 87, 234 <255 f.>; 100, 59 <90>), lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und die Ungleichbehandlung nicht besonders ins Gewicht fällt (vgl. BVerfGE 63, 119 <128