BVerfG 2. Senat 2. Kammer, Einstweilige Anordnung vom 16.07.2019, 2 BvR 1258/19

Das Urteil unter dem Aktenzeichen 2 BvR 1258/19 (BVerfG)

vom 16. Juli 2019 (Dienstag)


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Erlass einer einstweiligen Anordnung: Einstweilige Untersagung der Auslieferung des Beschwerdeführers an die USA

Die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

Der Generalstaatsanwalt München wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.

I.

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Die mit einem Eilantrag verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers, der die U.S.-amerikanische und iranische Staatsangehörigkeit besitzt, zur Strafverfolgung wegen Mordes in die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Beschwerdeführer rügt vor allem, das Oberlandesgericht München habe in seiner Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung in den Bundesstaat Kalifornien und im vorherigen Verfahren nicht hinreichend sichergestellt, dass im Zielstaat nicht die Todesstrafe gegen ihn verhängt werde und dass er die Möglichkeit haben werde, die Freiheit wiederzuerlangen, falls er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Bewährungsmöglichkeit verurteilt würde. Zudem genügten die Haftbedingungen in Kalifornien nicht dem auslieferungsrechtlichen Mindeststandard.

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Mit Bezug zur lebenslangen Freiheitsstrafe trägt der Beschwerdeführer durch seinen Verfahrensbevollmächtigten im Wesentlichen vor, es bestehe die konkrete Gefahr, dass er in den Vereinigten Staaten von Amerika zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit der späteren Strafaussetzung oder Bewährung verurteilt werde, was gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoße. Die Erklärung der U.S.-amerikanischen Behörden, derzufolge der 22-jährige Beschwerdeführer eine Anhörung zur Strafaussetzung verlangen könne, wenn er 85 % seiner Strafe verbüßt oder das 60. Lebensjahr erreicht habe, habe sich nicht auf die im Fall des Beschwerdeführers in Betracht kommende lebenslange Freiheitsstrafe ohne Bewährung bezogen, die gerade als "Ersatztodesstrafe" diene und im Rahmen derer die vorzeitige Entlassung nach kalifornischem Recht nicht möglich sei.

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Hinsichtlich der Haftbedingungen führt er an, dass Kalifornien im Jahr 2011 durch den U.S. Supreme Court verurteilt worden sei, weil die dort herrschenden Haftbedingungen wegen der langanhaltenden starken Überbelegung und der defizitären Gesundheitsversorgung nicht den Anforderungen des 8. Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika genügten, der eine grausame und ungewöhnliche Strafe verbiete. Kalifornische Haftanstalten seien auch weiterhin signifikant überbelegt. Nach den offiziellen Statistiken des U.S. Department of Justice habe ihre Auslastung im Frühjahr 2019 150 % betragen. Die Erklärung, die die U.S.-amerikanischen Behörden im Auslieferungsverfahren auf Anfrage des Oberlandesgerichts diesbezüglich abgegeben hätten, enthalte nur einen Verweis auf die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung, befasse sich aber nicht mit den tatsächlichen Defiziten und sichere die Rechte des Beschwerdeführers nur unzureichend.

II.

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Zur Verfahrenssicherung wird die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

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1. Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).

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Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

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2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen.

8

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder in Gänze von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Soweit sie sich gegen die Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts München vom 5. Juni 2019 wendet, ist sie nach derzeitigem Stand zulässig. Insoweit ist sie auch nicht offensichtlich unbegründet. Es erscheint auf der Grundlage des Vortrags des Beschwerdeführers vielmehr möglich, dass die angegriffene Entscheidung, mit der seine Auslieferung für zulässig erklärt wurde, ihn in seinen Rechten aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 25 GG und Art. 3 EMRK verletzt. Dabei ist nach derzeitigem Stand nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht nicht hinreichend aufgeklärt hat, ob dem Beschwerdeführer die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Bewährungsmöglichkeit droht und, wenn ja, unter welchen Umständen eine Aussetzung dieser Strafe im Zielstaat möglich ist, und ob ein etwaiges Verfahren zur Strafaussetzung den Anforderungen genügt, die Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 113, 154 <164 ff.>) und Art. 3 EMRK (stellvertretend EGMR, Trabelsi v. Belgien, Urteil vom 4. September 2014, Nr. 140/10) in Auslieferungsfällen an ein solches stellen. Zudem hat sich das Oberlandesgericht hinsichtlich der Rüge defizitärer Haftbedingungen ohne eigene Gefahrenprognose auf eine von den U.S.-amerikanischen Behörden abgegebene Erklärung gestützt, von der derzeit nicht ersichtlich ist, dass sie die Anforderungen erfüllt, die die Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention an eine auf den Einzelfall bezogene Zusicherung stellen (vgl. etwa EGMR, Othman (Abu Qatada) v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 17. Januar 2012, Nr. 8139/09, §§ 187 ff.).

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b) Die gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Beschwerdeführer ausgeliefert werden würde, sich später aber herausstellte, dass seine Auslieferung rechtswidrig war, wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Auslieferung einstweilen untersagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass sie ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Denn im erstgenannten Fall wäre dem Beschwerdeführer eine Geltendmachung seiner Einwände gegen die Auslieferung nicht mehr möglich. Demgegenüber könnte der Beschwerdeführer, sollte sich die geplante Auslieferung als rechtmäßig erweisen, ohne Weiteres zu einem späteren Zeitpunkt an die Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika übergeben werden. Sein Aufenthalt in Deutschland würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.

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3. Fragen der Auslieferungshaft bleiben von der einstweiligen Anordnung unberührt.