BAG 3. Senat, Urteil vom 19.02.2019, 3 AZR 215/18

Das Urteil unter dem Aktenzeichen 3 AZR 215/18 (BAG)

vom 19. Februar 2019 (Dienstag)


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Hinterbliebenenversorgung - Spätehenklausel

Auf die Revision der Klägerin wird - unter Zurückweisung der Revision im Übrigen - das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 16. Januar 2018 - 3 Sa 788/16 B - teilweise aufgehoben und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:

Auf die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung der Klägerin wird - unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten im Übrigen - das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 14. Juni 2016 - 8 Ca 403/15 B - teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 22.666,56 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus jeweils 1.888,88 Euro brutto seit dem jeweiligen Monatsersten des jeweiligen Folgemonats beginnend mit dem 1. Februar 2012 und endend mit dem 1. Januar 2013 zu zahlen.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 23.545,20 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus jeweils 1.962,10 Euro brutto seit dem jeweiligen Monatsersten des jeweiligen Folgemonats beginnend mit dem 1. Februar 2013 und endend mit dem 1. Januar 2014 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

1

Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin eine betriebliche Hinterbliebenenrente zu gewähren.

2

Die im März 1957 geborene Klägerin ist die Witwe des im August 1940 geborenen und im Februar 2008 verstorbenen ehemaligen Mitarbeiters der Beklagten B. Die Ehe wurde im Dezember 2005 geschlossen.

3

Auf das vom 1. Juli 1964 bis zum 31. August 2003 bestandene Arbeits- und das anschließende Versorgungsverhältnis des verstorbenen Ehemanns der Klägerin und der Beklagten, einem Unternehmen der Automobilindustrie, fand die Betriebsvereinbarung Nr. 2/92, VERSORGUNGSORDNUNG I (im Folgenden VO 1992) Anwendung. Diese lautet auszugsweise:

        

Kapitel 2

        

Leistungsvoraussetzungen

        

§ 3     

        

Allgemeine Leistungsvoraussetzungen

        

(1)     

Allgemeine Leistungsvoraussetzungen für eine Versorgungsleistung sind:

                 

-       

die Erfüllung der Wartezeit. Die Wartezeit ist erfüllt, wenn die V-Mitarbeiterin oder der V-Mitarbeiter mindestens fünf Jahre ununterbrochen oder unter tarif- oder einzelvertraglicher oder betrieblich geregelter Anrechnung eines früheren Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses mit der V AG in einem Arbeitsverhältnis zum Unternehmen gestanden hat.

                          

…       

                 

-       

die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der V AG bei oder nach Erfüllung der besonderen Leistungsvoraussetzungen.

        

…       

                 
        

§ 4     

        

Feste Altersgrenze

        

(1)     

Die feste Altersgrenze ist für V-Mitarbeiterinnen und V-Mitarbeiter mit Vollendung des 65. Lebensjahres erreicht.

                 

Das Arbeitsverhältnis endet mit Ablauf des Monats, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird, ohne dass es einer Kündigung bedarf.

        

(2)     

Wird vor Vollendung des 65. Lebensjahres eine vorzeitige V-Rente wegen Alters begehrt, weil aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung eine Altersrente in voller Höhe in Anspruch genommen wird, wird hierdurch die feste Altersgrenze nicht herabgesetzt.

                          
        

(3)     

Wird nach Vollendung des 65. Lebensjahres das Arbeitsverhältnis mit der V AG fortgesetzt, wird hierdurch die feste Altersgrenze nicht heraufgesetzt.

        

§ 5     

        

V-Rente wegen Alters und vorzeitige V-Rente wegen Alters

        

(1)     

Besondere Leistungsvoraussetzung für die V-Rente wegen Alters ist die Vollendung des 65. Lebensjahres.

        

(2)     

Besondere Leistungsvoraussetzung für die vorzeitige V-Rente wegen Alters ist die Inanspruchnahme einer Altersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in voller Höhe vor Vollendung des 65. Lebensjahres.

        

…       

        

§ 7     

        

V-Rente wegen Todes

        

(1)     

V-Rente wegen Todes wird geleistet als:

                 

-       

V-Witwenrente

                 

-       

V-Witwerrente

                 

…       

        

(2)     

Besondere Leistungsvoraussetzungen sind:

                 

-       

der Tod einer V-Mitarbeiterin oder eines V-Mitarbeiters während eines bestehenden Arbeitsverhältnisses und

                 

-       

die Rentenberechtigung einer/eines Hinterbliebenen

        

(3)     

Rentenberechtigte Hinterbliebene sind

                 

-       

die Witwe oder der Witwer und/oder

                 

…       

        
        

(4)     

Die Witwe oder der Witwer sind jedoch nur dann rentenberechtigt, wenn zum Zeitpunkt der Eheschließung die oder der Verstorbene das 62. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. …

        

…       

        
        

(6)     

Die Absätze 1 bis 5 gelten entsprechend beim Tod einer V-Rentenbezieherin oder eines V-Rentenbeziehers.

        

…       

        

Kapitel 3

        

Bemessungsgrundlagen, Berechnung und Höhe der Versorgungsleistungen

        

§ 9     

        

Bemessungsgrundlagen für die Versorgungsleistungen

        

(1)     

Bemessungsgrundlagen für die Höhe einer Versorgungsleistung sind

                 

-       

die Dauer der versorgungsfähigen Betriebszugehörigkeit und

                 

-       

das versorgungsfähige Einkommen

        

(2)     

Die Dauer der versorgungsfähigen Betriebszugehörigkeit ist die Zeit vom Beginn bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses mit der V AG, spätestens bis zum Ende des Monats, in dem die feste Altersgrenze (Vollendung des 65. Lebensjahres) erreicht wird. …

        

…       

        
        

§ 10   

        

Berechnung der V-Renten

        

(1)     

V-Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, V-Rente wegen Alters und vorzeitige V-Rente wegen Alters bestehen aus einem Grundbetrag von 4,4 % für die ersten fünf Jahre und 0,4 % für jedes weitere Jahr der versorgungsfähigen Betriebszugehörigkeit von dem nach § 9 maßgeblichen versorgungsfähigen Einkommen.

                 

…       

        

…       

        
        

§ 12   

        

Höhe der vorzeitigen V-Rente wegen Alters

        

(1)     

Die Höhe der Versorgungsleistung wird nach den Grundsätzen des § 10 ermittelt.

        

(2)     

Wird ab 01.01.2006 die vorzeitige V-Rente wegen Alters in Anspruch genommen, vermindert sich die V-Rente um 0,3 % für jeden Rentenbezugsmonat zwischen dem vollendeten 63. und 62. Lebensjahr.

        

…       

        

§ 14   

        

Höhe der V-Rente wegen Todes

        

…       

        

(5)     

Beim Tod einer ehemaligen V-Mitarbeiterin oder eines V-Mitarbeiters, die bzw. der eine V-Rente bezogen hat, beträgt die V-Witwenrente bzw. die V-Witwerrente 60 % der zuletzt gezahlten Versorgungsleistung.

        

…       

        
        

(10)   

Die V-Witwenrente bzw. V-Witwerrente ermäßigt sich um 3 % für jedes über fünfzehn Jahre hinausgehende volle Jahr des Altersunterschiedes zwischen der Witwe bzw. dem Witwer und dem verstorbenen Ehegatten.

        

…       

        

Kapitel 5

        

Verfahrensregelungen

        

…       

        

§ 21   

        

Zahlung der V-Rente

        

(1)     

Der Monatsbetrag der V-Rente wird am Monatsende rückwirkend überwiesen, …“

4

Seit dem 1. September 2003 bezog der verstorbene Ehemann der Klägerin eine monatliche V-Rente iHv. zunächst 2.967,03 Euro brutto und nach erfolgter Anpassung ab dem 1. Januar 2007 iHv. 3.081,56 Euro brutto. Die letzte Rentenzahlung erfolgte im Februar 2008.

5

Die Beklagte erhöhte die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ihrer ehemaligen Arbeitnehmer zu den Stichtagen am 1. Januar 2010 um 5,32 vH und am 1. Januar 2013 um weitere 7,61 vH.

6

Die Klägerin bezieht seit dem 1. Juni 2008 aus der gesetzlichen Rentenversicherung eine sog. große Witwenrente.

7

Mit ihrer im Dezember 2015 erhobenen Klage hat die Klägerin die Zahlung einer Witwenrente ab dem Jahr 2012 verlangt. Sie hat den Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 4 VO 1992 für unwirksam gehalten.

8

Sie hat zuletzt beantragt,

        

1.    

die Beklagte zu verurteilen, an sie rückständige V-Hinterbliebenenrente für die Monate Januar 2012 bis Dezember 2012 iHv. insgesamt 23.545,20 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweils geltenden Basiszinssatz aus jeweils 1.962,10 Euro seit dem jeweiligen Ersten des jeweiligen Folgemonats beginnend mit dem 1. Februar 2012 zu zahlen;

        

2.    

die Beklagte zu verurteilen, an sie rückständige V-Rente wegen Todes für die Monate Januar 2013 bis Dezember 2013 iHv. insgesamt 23.545,20 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweils geltenden Basiszinssatz aus jeweils 1.962,10 Euro seit dem jeweiligen Ersten des jeweiligen Folgemonats beginnend mit dem 1. Februar 2013 zu zahlen.

9

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, die Spätehenklausel in § 7 Abs. 4 VO 1992 sei bereits nach § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG sachlich gerechtfertigt. Zudem bezwecke die Klausel, den Versorgungsaufwand der Hinterbliebenenversorgung kalkulierbar zu halten. Auch knüpfe sie an ein betriebsrentenrechtliches Strukturprinzip an. Dies ergebe sich aus der bei ihr üblichen Ausscheidepraxis, dem Durchschnittsalter der ausscheidenden Versorgungsberechtigten und der damaligen Möglichkeit, die gesetzliche Altersrente mit Vollendung des 62. Lebensjahres vorzeitig in Anspruch nehmen zu können. Die Betriebsparteien hätten im Jahr 1992 davon ausgehen dürfen, dass Arbeitnehmer eine vorzeitige Altersrente aus der gesetzlichen Altersrente in Anspruch nehmen würden. Bei Unwirksamkeit der Spätehenklausel, die eine Ausweitung der Versorgungsrisiken um mindestens 6,2 Mio. Euro zur Folge hätte, sei eine ergänzende Vertragsauslegung dahingehend vorzunehmen, dass für die Spätehenklausel auf den Versorgungsfall „Alter“ abzustellen sei.

10

Das Arbeitsgericht hat der Klage mit dem bei ihm ausschließlich rechtshängigen Antrag zu 1. stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil abgeändert und die Klage unter Zurückweisung der Anschlussberufung, mit der die Klägerin ihre Ansprüche für das Jahr 2013 in den Rechtsstreit eingeführt hat, abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.

11

Die Revision der Klägerin ist überwiegend begründet, da die zulässige Klage weitgehend begründet ist.

12

I. Die Klage ist zulässig.

13

1. Die Klageerweiterung um den Antrag zu 2. im Berufungsverfahren war zulässig.

14

Eine Klageerweiterung ist auch im Berufungsverfahren gemäß § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 533 ZPO zulässig. § 533 ZPO ist jedoch dann nicht anzuwenden, wenn ein Fall des § 264 Nr. 2 ZPO vorliegt und daher nach ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung eine Antragsänderung nicht als Klageänderung anzusehen ist. Ob die Voraussetzungen dieser Vorschriften tatsächlich vorliegen, ist allerdings in der Revisionsinstanz in entsprechender Anwendung von § 268 ZPO nicht zu überprüfen, wenn das Berufungsgericht - wie hier - in der Sache über den Antrag entschieden hat. Diese Entscheidung bindet das Revisionsgericht (vgl. BAG 27. April 2017 - 6 AZR 119/16 - Rn. 52 mwN, BAGE 159, 92).

15

2. Die Anträge sind hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

16

a) Die Klagepartei muss eindeutig festlegen, welche Entscheidung sie begehrt. Dazu hat sie den Streitgegenstand so genau zu bezeichnen, dass der Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis ( § 308 ZPO ) keinem Zweifel unterliegt und die eigentliche Streitfrage mit Rechtskraftwirkung zwischen den Parteien entschieden werden kann ( § 322 ZPO ). Sowohl bei einer der Klage stattgebenden als auch bei einer sie abweisenden Sachentscheidung muss zuverlässig feststellbar sein, worüber das Gericht entschieden hat. Bei mehreren im Wege einer objektiven Klagehäufung gemäß § 260 ZPO in einer Klage verfolgten Ansprüchen muss erkennbar sein, aus welchen Einzelforderungen sich die „Gesamtklage“ zusammensetzt. Werden im Wege einer „Teil-Gesamt-Klage“ mehrere Ansprüche nicht in voller Höhe, sondern teilweise verfolgt, muss die Klagepartei genau angeben, in welcher Höhe sie aus den einzelnen Ansprüchen Teilbeträge einklagt (BAG 29. August 2018 - 7 AZR 206/17 - Rn. 20 mwN).

17

b) Danach sind die Klageanträge hinreichend bestimmt.

18

Die Klägerin hat zuletzt ihre Witwenrente seit dem 1. März 2008 mit 1.793,47 Euro berechnet. Die Anpassung zum 1. Januar 2010 iHv. 5,32 vH ergibt zwar einen Betrag iHv. 1.888,88 Euro brutto und somit 22.666,56 Euro brutto für das Jahr 2012. Auch geht sie für das Jahr 2013 mit Blick auf die unstreitige Anpassung iHv. 7,61 vH von einem monatlichen Betrag iHv. 2.032,62 Euro brutto aus, was zu einem Jahresbetrag iHv. 24.391,44 Euro brutto führt. Da die Klägerin aber jeweils gleichbleibend hohe Monatsbeträge geltend gemacht und es lediglich versäumt hat, die Anträge ihren Berechnungen anzupassen, sind die Ansprüche dennoch hinreichend individualisiert.




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