BVerwG 6. Senat, Beschluss vom 03.05.2019, 6 B 149/18

Das Urteil unter dem Aktenzeichen 6 B 149/18 (BVerwG)

vom 3. Mai 2019 (Freitag)


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Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die von Polizeibeamten der Beklagten getroffene Anordnung, eine Sitzblockade zu verlegen, und die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch einen Griff in das Gesicht der Klägerin und Wegdrücken ihres Kopfes durch einen Polizeibeamten der Beklagten rechtswidrig waren. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision, die sich auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) stützt, bleibt ohne Erfolg.

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1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. November 2018 - 6 B 58.18 [ECLI:DE:BVerwG:2018:191118B6B58.18.0] - juris Rn. 4 m.w.N.). Den nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO maßgeblichen Darlegungen in der Beschwerdebegründung der Klägerin lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen in Bezug auf die von der Klägerin für klärungsbedürftig gehaltene Rechtsfrage erfüllt sind.

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Die Beschwerde wirft als grundsätzlich bedeutsam die Rechtsfrage auf, ob

"versammlungsrechtliche Verfügungen nach den entsprechenden, im allgemeinen Polizeirecht geregelten Normen zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen und Unterlassungen durchgesetzt werden" dürfen.

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Diese Frage ist zwar entscheidungserheblich. Denn das Oberverwaltungsgericht hat angenommen, dass das Wegdrücken des Kopfes der Klägerin durch einen Polizeibeamten als Anwendung unmittelbaren Zwangs im Sinne des § 69 Abs. 1 Nds. SOG zur Durchsetzung der auf § 10 Abs. 2 Satz 1 Niedersächsisches Versammlungsgesetz (NVersG) gestützten Anordnung zur Verlegung der Sitzblockade von der Fahrbahn des D.-Wegs in G. auf den benachbarten Gehweg rechtmäßig war. Dürften versammlungsrechtliche Verfügungen grundsätzlich nicht nach den im allgemeinen Polizeirecht geregelten Normen zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen und Unterlassungen durchgesetzt werden, wäre die Zwangsmaßnahme mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig gewesen.

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Die von der Klägerin aufgeworfene Frage kann jedoch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache schon deshalb nicht begründen, weil sie bei wörtlichem Verständnis kein revisibles Recht betrifft und deshalb in einem Revisionsverfahren nicht geklärt werden könnte. Nach § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil Bundesrecht verletzt. Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Auslegung und Anwendung des Landesrechts durch die Vorinstanz gebunden (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO). Es ist darauf beschränkt nachzuprüfen, ob der festgestellte Bedeutungsgehalt des Landesrechts mit Bundesrecht, insbesondere mit Bundesverfassungsrecht, vereinbar ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. November 2018 - 6 B 47.18 [ECLI:DE:BVerwG:2018:061118B6B47.18.0] - NVwZ 2019, 239 Rn. 8). Ob versammlungsrechtliche Verfügungen nach den Bestimmungen des allgemeinen Polizeirechts zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen und Unterlassungen durchgesetzt werden dürfen, hängt von Inhalt und Reichweite der einschlägigen versammlungsrechtlichen Vorschriften ab. Die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht ist im Zuge der Föderalismusreform durch die Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG vom Bund auf die Länder übergegangen (vgl. Art. 70 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 <BGBl. I S. 2034>). Soweit das betreffende Land - wie im vorliegenden Fall das Land Niedersachsen - das nach Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG zunächst als Bundesrecht fortgeltende Versammlungsgesetz des Bundes gemäß Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG durch Landesrecht ersetzt hat, können sich mangels Revisibilität keine rechtsgrundsätzlichen Fragen stellen, die in dem mit der Beschwerde angestrebten Revisionsverfahren geklärt werden könnten.

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Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage führt auch dann nicht zur Revisionszulassung, wenn sie dahingehend verstanden wird, dass geklärt werden soll, ob Eingriffe in die von Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Versammlungsfreiheit ausschließlich auf eine spezifisch versammlungsrechtliche Befugnisnorm oder unter bestimmten Voraussetzungen auch auf das (allgemeine) Polizeirecht gestützt werden können, wovon das Berufungsgericht implizit ausgegangen ist. Zwar betrifft die Frage mit diesem Inhalt revisibles (Bundesverfassungs-)Recht. Sie ist indes nicht klärungsbedürftig, weil sie sich auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts mit Hilfe der üblichen Auslegungsregeln eindeutig im Sinne des Berufungsurteils beantworten lässt.

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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass sich Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen in erster Linie nach dem Versammlungsgesetz des Bundes richten, soweit dieses gemäß Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG auch nach Wegfall der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Versammlungsrecht (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG in der bis zum 31. August 2006 geltenden Fassung) fortgilt. Seine im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen sind Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit. Soweit das Versammlungsgesetz abschließende Regelungen hinsichtlich der polizeilichen Eingriffsbefugnisse enthält, geht es daher als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. April 1989 - 7 C 50.88 - BVerwGE 82, 34 <38> und vom 25. Juli 2007 - 6 C 39.06 - BVerwGE 129, 142 Rn. 30 m.w.N.; vgl. auch: BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 [ECLI:DE:BVerfG:2004:rk20041026.1bvr172601] - NVwZ 2005, 80 <81> und vom 30. April 2007 - 1 BvR 1090/06 [ECLI:DE:BVerfG:2007:rk20070430.1bvr109006] - juris Rn. 43). Diese sogenannte Polizeifestigkeit der Versammlungsfreiheit bedeutet freilich nicht, dass in die Versammlungsfreiheit nur auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes eingegriffen werden könnte; denn das Versammlungsgesetz enthält keine abschließende Regelung für die Abwehr aller Gefahren, die im Zusammenhang mit Versammlungen auftreten können. Vielmehr ist das Versammlungswesen im Versammlungsgesetz nicht umfassend und vollständig, sondern nur teilweise und lückenhaft geregelt, so dass in Ermangelung einer speziellen Regelung auf das der allgemeinen Gefahrenabwehr dienende Polizeirecht der Länder zurückgegriffen werden muss (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Juli 2007 - 6 C 39.06 - BVerwGE 129, 142 Rn. 30 und vom 25. Oktober 2017 - 6 C 46.16 [ECLI:DE:BVerwG:2017:251017U6C46.16.0] - BVerwGE 160, 169 Rn. 16).

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Diese Grundsätze gelten ohne weiteres entsprechend, wenn das betreffende Land das Versammlungsgesetz des Bundes gemäß Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG durch Landesrecht ersetzt hat, das der von Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit durch die Regelung besonderer Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen Rechnung trägt. Fehlt es in einem solchen Fall - wie hier - an speziellen Regelungen zur Vollstreckung der auf versammlungsrechtlicher Grundlage erlassenen Verfügungen, steht Art. 8 Abs. 1 GG dem Rückgriff auf die allgemeinen landesrechtlichen Regelungen nicht entgegen.

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2. Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen.

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Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die Entscheidung der Vorinstanz auf einem abstrakten Rechtssatz beruht, der im Widerspruch zu einem Rechtssatz steht, den das Bundesverwaltungsgericht, der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder das Bundesverfassungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 2017 - 6 B 43.17 [ECLI:DE:BVerwG:2017:211217B6B43.17.0] - Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 198 Rn. 4 m.w.N.). Diese Voraussetzung wird von der Beschwerde bereits nicht in der gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlichen Weise dargelegt. Soweit die Klägerin eine Divergenz zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 - rügt, weist sie zwar zutreffend auf den darin aufgestellten Rechtssatz hin, dass auf Maßnahmen gegenüber einem Teilnehmer einer Versammlung mangels Auflösung der Versammlung oder seines rechtmäßigen Ausschlusses aus ihr weiterhin das Versammlungsrecht anwendbar ist und daher ein Platzverweis nicht auf Polizeirecht - im dortigen Fall Art. 16 BayPAG - gestützt werden kann (BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 - NVwZ 2005, 80 <81>). Die Beschwerde hält diesem Rechtssatz jedoch keinen ebenso abstrakten und entscheidungserheblichen Rechtssatz des Oberverwaltungsgerichts entgegen, mit dem dieses in dem vorinstanzlichen Urteil von dem genannten Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts abgewichen wäre. Sie macht vielmehr lediglich geltend, eine Bezugnahme auf Normen des allgemeinen Polizeirechts zur Durchsetzung versammlungsrechtlicher Verfügungen erscheine ebenfalls ausgeschlossen. Mit diesem Vorbringen rügt sie keine Abweichung des Berufungsurteils von dem genannten Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts, sondern von einem anderen, weiter gehenden Rechtssatz, den sie in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - wie unter 1. ausgeführt zu Unrecht - hineinliest.

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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 39 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.