Datenquelle: www.rechtsprechung-im-internet.de (Direktlink)
Nichtzulassungsbeschwerde - Anforderungen an eine Revisionsbegründung - Verfahrensrüge
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Juni 2015 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
I. Zwischen den Beteiligten ist der Fortbestand der freiwilligen Mitgliedschaft der Klägerin bei der beklagten Krankenkasse streitig.
Die Klägerin ist seit 1.1.2009 als Selbstständige freiwilliges Mitglied der Beklagten. Mit Schreiben vom 24.4.2009 kündigte sie ihre Mitgliedschaft "fristgerecht zum 31.07.2009 vorbehaltlich der Aufnahme zum 01.08.200 in die S. e.V." (S.). Bei S. handelt es sich nach § 2 seiner Satzung vom 13.7.2013 um eine aufsichtsfreie Personenvereinigung gemäß § 1 Abs 3 Nr 1 Versicherungsaufsichtsgesetz und keine Krankenkasse oder Krankenversicherung, die den Zweck verfolgt, (1.) dass sich die Mitglieder "gegenseitig rechtlich verbindlich eine umfassende flexible Krankenversorgung" zusichern, "die in Quantität und Qualität mindestens dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht", (2.) "Eigenverantwortung und Solidarität der Mitglieder im Gesundheitsbereich" zu stärken, wobei sich die Mitglieder "gegenseitig bei Fragen der Lebensbalance, der Gesundheitspflege, der Krankenpflege und der Krankheitsbehandlung sowohl ideell als auch materiell" unterstützen und sie davon ausgehen, "dass verschiedene Methoden hierzu geeignet sein können (Methodenpluralismus)", sowie (3.) zur "Unterstützung und Förderung einer Medizin und Pflege, die der körperlichen, seelischen und geistigen Natur des Menschen gerecht wird", beizutragen. Diese Satzungszwecke sollen insbesondere dadurch verwirklicht werden, dass (1.) "im Krankheitsfall jedes Mitglied eine umfassende und flexible Krankenversorgung erhält", (2.) "die Struktur des Vereins und die Formen der Zusammenarbeit das Prinzip der Subsidiarität einer zivilen Bürgergesellschaft zum Ausdruck bringen und dabei Individualität und Gemeinschaft in ein wechselseitig anregendes und förderliches Entwicklungsverhältnis bringen", und (3.) "eine angemessene Rücklagenbildung und sonstige Risikoabsicherung sowie eine kostenbewusste Haushaltsführung sichergestellt wird".
Nach Vorlage einer Bescheinigung des S. vom 29.5.2009, wonach für die Klägerin ab 1.8.2009 ein vergleichbarer Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall bestehe, stellte die Beklagte das Bestehen der freiwilligen Versicherung über den 31.7.2009 hinaus fest. Der Nachweis einer anderweitigen Absicherung im Krankheitsfall sei nicht erbracht, denn die Satzung des S. sehe ausdrücklich vor, dass ein Rechtsanspruch auf eine bestimmte Unterstützung nicht bestehe (Bescheid vom 17.6.2009 und Widerspruchsbescheid vom 23.2.2011).
Das SG München hat die auf Feststellung der Wirksamkeit der Kündigung der freiwilligen Mitgliedschaft gerichtete Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 4.1.2013). Das Bayerische LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Die Mitgliedschaft bei S. stelle keine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall dar. Den Vereinsmitgliedern seien Leistungsansprüche iS des § 194 Abs 1 BGB nicht garantiert. Darüber hinaus sei für sie der Rechtsweg zu den Zivil-, aber auch den Sozialgerichten ausgeschlossen. Das vorgesehene Schlichtungs- und Schiedsverfahren werde von Mitgliedern des S. durchgeführt. Unabhängig davon fehle es an einer Aufsicht über die Tätigkeit der Vorstände, der insbesondere über die Aufnahme eines Mitglieds entscheide. Auch nehme S. weder an den Verfahren und Vorgaben des Gemeinsamen Bundessausschusses und des Instituts für Qualitätssicherung im Gesundheitswesen noch an den Rabattverträgen der gesetzlichen Krankenkassen mit der Pharmaindustrie teil (Urteil vom 9.6.2015).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das LSG habe §§ 103, 106, 128, 157 SGG verletzt. Es habe sich auf die frühere und nicht die novellierte Satzung des S. gestützt, die herangezogene Satzung sowie die Zuwendungsordnung fehlerhaft ausgelegt, auf einzelne für die Entscheidung maßgebende Gesichtspunkte nicht vorab hingewiesen und den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. In sachlicher Hinsicht sei entgegen der Auffassung des LSG von einer "anderweitigen Absicherung im Krankheitsfall" auszugehen. Die novellierte Satzung garantiere den Vereinsmitgliedern einen Anspruch auf einen umfassende flexible Krankenversorgung, die in Qualität und Quantität zumindest dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung entspreche. Mitglieder einer Solidargemeinschaft, die nach den verfassungsrechtlich verankerten Grundsätzen der Solidarität und Eigenverantwortung eine angemessene Krankenversorgung gewährleiste, dürften nicht in ein staatlich vorgegebenes Krankenkassensystem gezwungen werden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Juni 2015, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 4. Januar 2013 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 2011 aufzuheben und festzustellen, dass die mit Schreiben vom 24. April 2009 erklärte Kündigung der Mitgliedschaft zum Zeitpunkt der Verkündung des Revisionsurteils im vorliegenden Verfahren wirksam wird.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil.
II. Die Revision der Klägerin ist unzulässig. Das Rechtsmittel ist zwar frist- und formgerecht eingelegt worden. Allerdings entspricht die Revisionsbegründung nicht den gesetzlichen Anforderungen. Die Revision war daher zu verwerfen (§ 169 S 1 und 2 SGG).
1. Nach § 164 Abs 2 S 1 und 3 SGG ist die Revision fristgerecht zu begründen; die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben. Diese gesetzlichen Anforderungen hat das BSG in ständiger Rechtsprechung präzisiert. Danach muss, wenn mit der Revision - wie hier - (jedenfalls sinngemäß) die Verletzung einer Rechtsnorm gerügt wird, in der Begründung dargelegt werden, weshalb eine Vorschrift im materiellen Sinn von der Vorinstanz nicht oder nicht richtig angewendet worden ist (vgl § 546 ZPO). Mit diesem Erfordernis soll zur Entlastung des Revisionsgerichts erreicht werden, dass der Revisionskläger bzw sein Prozessbevollmächtigter die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels eingehend prüft und von aussichtslosen Revisionen rechtzeitig Abstand nimmt (BSG Urteil vom 31.3.2017 - B 12 KR 16/14 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen; BSG Urteil vom 24.2.2016 - B 13 R 31/14 R - SozR 4-1500 § 164 Nr 4 RdNr 11 mwN). An der damit notwendigen Durchdringung der Sach- und Rechtslage fehlt es jedoch, wenn nicht anhand der Revisionsbegründung erkennbar wird, dass der Revisionsführer auch die tatsächlichen Feststellungen des angegriffenen Urteils erfasst und seinen rechtlichen Erwägungen zugrunde gelegt hat.
Insoweit genügt es nicht, die angeblich verletzte Rechtsnorm zu benennen und sich mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinanderzusetzen. Die Bezeichnung der durch das LSG "verletzten Rechtsnorm" iS von § 164 Abs 2 SGG muss vielmehr berücksichtigen, dass die eigentliche Rechtsverletzung das Ergebnis der Anwendung einer fehlerhaft ausgelegten Norm auf den zugrunde liegenden Sachverhalt ist, denn erst das Ergebnis eines Subsumtionsschlusses "verletzt" den unterlegenen Beteiligten. Zur Beurteilung, ob im konkreten Fall eine Verletzung durch den Subsumtionsschluss des LSG stattgefunden hat, sind deshalb nicht nur Ausführungen zum rechtlichen Obersatz, sondern auch zu den Tatsachen erforderlich, auf die dieser Obersatz anzuwenden ist. Nur dann wird die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsausführungen schlüssig aufgezeigt. Die Revisionsbegründung muss daher auch den wesentlichen Lebenssachverhalt darstellen, über den das LSG entschieden hat (BSG Urteil vom 29.6.2016 - B 12 KR 14/14 R - Juris RdNr 12).
Diesen Anforderungen wird die vorliegende Revisionsbegründung, soweit die "Verletzung sachlichen Rechts" gerügt wird, nicht gerecht. Sie lässt gerade nicht erkennen, dass die Klägerin die Rechtslage genau durchdacht und das angegriffene Urteil im Hinblick auf einen Erfolg des Rechtsmittels unter Berücksichtigung des für das BSG aufgrund der prozessualen Besonderheiten des Revisionsverfahrens maßgeblichen Sachverhalts überprüft hat. Selbst eine nur kurze zusammenhängende Darstellung des vom LSG festgestellten entscheidungsrelevanten Sachverhalts ist der Revisionsbegründung nicht zu entnehmen. Die der rechtlichen Auseinandersetzung zugrunde liegenden Tatsachen werden auch nicht ansatzweise mitgeteilt. Soweit die Klägerin auf den Hinweis des Senats zu § 164 Abs 2 SGG ausgeführt hat, dass der "entscheidungsrelevante Kernsachverhalt" die in der Revisionsbegründung mehrfach angesprochene Frage sei, "ob die Mitgliedschaft in der S. die Voraussetzungen einer 'anderweitigen Absicherung im Krankheitsfall' erfüllt und damit ein Ausscheiden der Klägerin aus der freiwilligen Mitgliedschaft bei der Beklagten zulässig ist", wird gerade nicht der tatsächliche entscheidungserhebliche Lebenssachverhalt, sondern die zwischen den Beteiligten umstrittene Rechtsfrage beschrieben. Dass dem Begründungserfordernis bereits mit der Benennung der streitgegenständlichen Bescheide genügt sei, folgt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht aus der von ihr zitierten Entscheidung des BSG vom 26.7.2016 (B 4 AS 25/15 R).
2. Die von der Klägerin erhobenen Verfahrensrügen sind ebenfalls nicht ausreichend begründet. Gemäß § 164 Abs 2 S 3 SGG müssen bei Verfahrensrügen die Tatsachen bezeichnet werden, die den Mangel ergeben. Die maßgeblichen Vorgänge müssen so genau angegeben sein, dass das Revisionsgericht sie, die Richtigkeit des Vorbringens unterstellt, ohne weitere Ermittlungen beurteilen kann (BSG Urteil vom 30.10.2014 - B 5 R 8/14 R - BSGE 117, 192 = SozR 4-1500 § 163 Nr 7, RdNr 20 mwN). Auch dem genügt die Revisionsbegründung nicht.
a) Mit dem Vorbringen, das LSG habe seine Entscheidung auf die frühere und nicht auf die novellierte Vereinssatzung gestützt, sind keine Tatsachen bezeichnet, die den gerügten Verstoß gegen § 157 SGG ergeben können. Nach dieser Vorschrift prüft das LSG den Streitfall im gleichen Umfang wie das SG, wobei auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen sind. Sie erstreckt das Gebot der umfassenden Entscheidung über den vom Kläger erhobenen Anspruch auf die Berufungsinstanz (BSG Urteil vom 11.11.1987 - 9a RV 22/85 - Juris RdNr 10) und betrifft damit den Streitgegenstand des Verfahrens.
b) Auch die Rüge, § 128 SGG sei verletzt, ist unzulässig erhoben. Insoweit macht die Klägerin (wiederum) geltend, das LSG habe nicht die novellierte Vereinssatzung berücksichtigt, seine Auslegung, die Satzung schließe Leistungsansprüche aus, verstoße gegen Denkgesetze, die Zuwendungsordnung sei nur selektiv in Betracht gezogen worden, die Feststellung, das Schlichtungs- und Schiedsverfahren werde von Vereinsmitgliedern durchgeführt, sodass es an einer objektiven Unabhängigkeit fehlen könne, stehe in offenkundigem Widerspruch zu § 11 Abs 2 der novellierten Satzung, und das LSG habe die Beaufsichtigung der Vorstände durch die Mitgliederversammlung ausgeklammert. Allerdings betrifft § 128 SGG die tatsächlichen Grundlagen des Urteils, die vom Gericht von Amts wegen zu ermitteln sind (§ 103 SGG), und deren Würdigung im Rahmen freier richterlicher Überzeugungsbildung. Regelungsgegenstand ist hingegen nicht die gerügte Anwendung und Auslegung von (untergesetzlichen) Rechtsnormen, hier in Gestalt einer Satzung.
c) Ferner bezeichnet die Klägerin mit ihrem Vorbringen, das LSG hätte auf die herangezogenen Gesichtspunkte des Datenschutzes sowie der Altersstruktur und Geschlechterverteilung hinweisen müssen, keine Tatsachen, die den gerügten Verstoß gegen § 106 SGG iVm (sinngemäß) dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG und Art 103 Abs 1 GG begründen könnten. Die richterliche Hinweispflicht konkretisiert zwar den Anspruch auf rechtliches Gehör und zielt damit auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (BSG Urteil vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - Juris RdNr 34). Das Gericht hat auf einen rechtlichen Gesichtspunkt hinzuweisen, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Auf welche Begründung im Detail ein Gericht seine Rechtsauffassung zu stützen gedenkt, ist hingegen nicht von der Hinweispflicht umfasst. Das Gericht ist nicht verpflichtet, ein Rechtsgespräch zu führen oder jedenfalls die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (BSG Urteil vom 4.9.2013 - B 12 KR 13/11 R - SozR 4-2500 § 5 Nr 21 RdNr 15 mwN, insbesondere auf BVerfG Beschluss vom 19.5.1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133, 144 f). Unabhängig davon hat die Klägerin nicht dargelegt, was sie im Falle eines rechtlichen Hinweises vorgetragen hätte (vgl BSG Urteil vom 25.1.2001 - B 4 RA 97/00 R - Juris RdNr 13 mwN).
d) Schließlich entspricht auch die Aufklärungsrüge (§ 103 SGG) nicht den Anforderungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei kann dahingestellt bleiben, inwieweit sich die für erforderlich gehaltenen Ermittlungen überhaupt auf Tatsachen und nicht auf die Anwendung und Auslegung von Rechtsvorschriften beziehen. Jedenfalls sind keine Tatsachen vorgetragen, aus denen sich schlüssig ergibt, dass sich das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen, und die das Revisionsgericht in die Lage versetzen, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (BSG Urteil vom 23.6.2015 - B 1 KR 20/14 R - BSGE 119, 141 = SozR 4-2500 § 108 Nr 4, RdNr 21 mwN).
Die Kostenentscheidung beruht auf 193 Abs 1 S 1 SGG.