BSG, Beschluss vom 09.01.2019, B 13 R 170/17 B

Das Urteil unter dem Aktenzeichen B 13 R 170/17 B (BSG)

vom 9. Januar 2019 (Mittwoch)


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Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. April 2017 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

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I. Das LSG Baden-Württemberg hat mit dem angefochtenen Urteil einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung, auch wegen Berufsunfähigkeit, verneint.

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Im Berufungsverfahren ist ein orthopädisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. H. vom 1.2.2017 eingeholt worden. Dieser ist zu dem Ergebnis gekommen, dass dem Kläger bei Beachtung qualitativer Einschränkungen leichte Tätigkeiten mindestens sechs Stunden je Arbeitstag möglich seien, wenn diese Arbeit entweder durch zwei arbeitsunübliche Pausen von je 30 Minuten oder durch eine von 60 Minuten unterbrochen werde.

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Im Urteil vom 25.4.2017, auf das der Kläger im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde Bezug genommen hat, hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass es eine rentenrechtlich relevante qualitative oder quantitative Minderung des Leistungsvermögens des Klägers auf weniger als sechs Stunden arbeitstäglich nicht mit der an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festzustellen vermöge. Der Kläger könne nach dem für den Senat schlüssigen und überzeugenden Sachverständigengutachten von Prof. Dr. H., dem im Wege des Urkundenbeweises verwertbaren Gutachten des Arztes P. und den insoweit übereinstimmenden Stellungnahmen der Sozialmedizinerin Dr. L., die als qualifizierter Beteiligtenvortrag verwertbar seien, Tätigkeiten als Papiermacher in leitender Position, auf der Poststelle sowie als Registrator auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens sechs Stunden arbeitstäglich verrichten. Soweit Prof. Dr. H. vom Erfordernis betriebsunüblicher Pausen von zwei mal 30 Minuten ausgehe, vermöge sich der Senat dem nicht anzuschließen. Eine überzeugende Begründung könne weder seinem Gutachten noch den sonstigen in den Akten enthaltenen ärztlichen Äußerungen entnommen werden. Ein solches Erfordernis könne aus den erhobenen Befunden nicht abgeleitet und nicht mit der erforderlichen Gewissheit festgestellt werden, gerade auch vor dem Hintergrund der feststellbaren vorliegenden Aggravationstendenzen des Klägers. Er sei jedenfalls auf die einem Facharbeiter zumutbare Tätigkeit eines Registrators verweisbar.

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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger unter Bezugnahme auf die Senatsentscheidung vom 14.12.2016 (B 13 R 204/16 B - Juris RdNr 15) den Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) geltend. Das LSG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es seine vom Sachverständigengutachten des Prof. Dr. H. abweichende Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers auf eigene Sachkunde gestützt habe, ohne vor der Entscheidung die Beteiligten auf das Bestehen dieser eigenen sozialmedizinischen Sachkunde hingewiesen und erläutert zu haben, welche Schlussfolgerun-gen es daraus ziehen wolle. Denn es habe der medizinischen Einschätzung über die Notwendigkeit von Pausen widersprochen, ohne darüber vorab einen Hinweis zu erteilen oder mitzuteilen, woher es diese Sachkunde nehme. Dies wäre geboten gewesen, da der Sachverständige das Erfordernis arbeitsunüblicher Pausen nicht bezugslos in den Raum gestellt habe. Vielmehr habe er die Pausen zur Bedingung dafür gemacht, dass der Kläger überhaupt leichte Tätigkeiten "ohne Gefährdung seiner Restgesundheit" ausüben könne. Das LSG trenne die Feststellungen des Sachverständigen, indem es die Feststellung über noch mögliche leichte Tätigkeiten hinnehme, aber das Erfordernis betriebsunüblicher Pausen verneine. Dies betreffe nicht ausschließlich die Beweiswürdigung. Denn das LSG negiere eine medizinische und somit fachfremde Beurteilung, ohne hierfür ausschließlich argumentativ-logische Gründe oder Aspekte von Schlüssigkeit und Folgerichtigkeit anzustellen. Es setze vielmehr medizinische Gründe entgegen und bewege sich außerhalb der dem Gericht vorbehaltenen freien Beweiswürdigung. Sein Rügerecht sei auch nicht verloren gegangen, denn die Beurteilung des LSG habe sich erst aus der Bekanntgabe der Entscheidungsgründe ergeben. Das Urteil des LSG beruhe auf dem gerügten Mangel. Bei der Notwendigkeit betriebsunüblicher Pausen gelte der Arbeitsmarkt als verschlossen.

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II. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Der Kläger hat in der Begründung des Rechtsmittels entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG den allein geltend gemachten Zulassungsgrund des Verfahrensmangels nicht hinreichend bezeichnet. Zur Bezeichnung eines Verfahrensmangels müssen die tatsächlichen Umstände, welche den geltend gemachten Verfahrensverstoß begründen sollen, substantiiert und schlüssig dargelegt und darüber hinaus muss aufgezeigt werden, inwiefern die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann (stRspr, vgl Senatsbeschluss vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 4 mwN; BSG Beschluss vom 20.2.2018 - B 10 LW 3/17 B - Juris RdNr 4). Zu beachten ist, dass ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG gestützt werden kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Teils 2 SGG) und dass die Rüge einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG nur statthaft ist, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG).

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1. Entgegen der Auffassung des Klägers bezieht sich seine Rüge im Kern auf die Beweiswürdigung des Gerichts. Sowohl das sinngemäße Vorbringen, das LSG habe angesichts des vorhandenen Beweisergebnisses nicht zur Unerweislichkeit (non liquet) des Pausenerfordernisses gelangen dürfen (vgl BSG Beschluss vom 23.1.1989 - 2 BU 137/88 - Juris RdNr 4), als auch der Vortrag, das LSG habe seine eigene Auffassung nicht an die Stelle des medizinischen Sachverständigen setzen dürfen (vgl dazu bereits BSG Urteil vom 25.8.1955 - 4 RJ 120/54 - SozR Nr 1 zu § 128 SGG Juris RdNr 22f; Senatsurteil vom 12.10.1993 - 13 RJ 75/92 - Juris RdNr 21), betreffen die Rüge der Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung. Mit solchem Vorbringen ist der Kläger aber nach dem eindeutigen Wortlaut des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde - anders als im Revisionsverfahren (vgl § 164 Abs 2 S 3 SGG; vgl Senatsbeschluss vom 13.8.2018 - B 13 R 397/16 B - Juris RdNr 9) - von vornherein ausgeschlossen.

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2. Die Verletzung rechtlichen Gehörs aufgrund einer sog Überraschungsentscheidung hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert dargelegt.

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Der vom Kläger gerügte Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung des Gerichts überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl Senatsbeschluss vom 14.12.2016 - aaO - Juris RdNr 14). Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl zB BVerfG <Kammer> Beschluss vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - BVerfGK 19, 377 - Juris RdNr 18 mwN; Senatsbeschluss vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - Juris RdNr 9). Die Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt (vgl Senatsbeschluss vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - Juris RdNr 9). Ferner ist Voraussetzung für den Erfolg einer Gehörsrüge, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl BSG Beschluss vom 29.1.2018 - B 9 V 39/17 B - Juris RdNr 15). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

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Soweit sich das LSG in dem angefochtenen Urteil mit dem Erfordernis betriebsunüblicher Pausen auseinandersetzt, hat es nach den Ausführungen des Klägers den Inhalt des Gutachtens aus sich heraus bzw aufgrund des Akteninhalts als nicht überzeugend erachtet. Insofern unterscheidet sich der Sachverhalt von demjenigen, der der vom Kläger zitierten Senatsentscheidung vom 14.12.2016 (B 13 R 204/16 B) zugrunde lag. Denn dort wurde deshalb eine Überraschungsentscheidung angenommen, weil das LSG ausdrücklich neue, bislang nicht ins Verfahren eingeführte sozialmedizinische Gesichtspunkte herangezogenen hatte (B 13 R 204/16 B - Juris RdNr 15; vgl auch BSG Beschluss vom 15.9.2011 - B 2 U 157/11 B - Juris RdNr 9 bzw Urteil vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3 Juris RdNr 26: Überraschungsentscheidung bei Auswertung anhand einer nicht in das Verfahren eingeführten unfallmedizinischen Literatur). Der Kläger behauptet aber nicht, dass ihm das Sachverständigengutachten und die medizinischen Berichte, auf die sich das LSG bei seiner Entscheidungsfindung gestützt hat, nicht bekannt gewesen seien oder er sich nicht rechtzeitig dazu hätte äußern können. Welche Schlussfolgerungen das Gericht daraus ziehen wird, muss es vorab nicht mitteilen. Einer förmlichen "Einführung" von Bewertungsgesichtspunkten oder einer beabsichtigten Beweiswürdigung in die mündliche Verhandlung bedarf es nach allgemeinen Verfahrensgrundsätzen nicht (vgl Senatsbeschluss vom 29.5.2015 - B 13 R 129/15 B - Juris RdNr 13). Grundsätzlich muss der Kläger damit rechnen, dass das Gericht auch zu seinen Ungunsten entscheiden kann (vgl BSG Beschluss vom 11.7.2017 - B 9 SB 15/17 B - Juris RdNr 12).

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Es ist aus dem Vortrag insbesondere auch nicht ersichtlich, welche Äußerungen die Beteiligten im Prozessverlauf zum Gutachten des Prof. Dr. H. getätigt haben. Insoweit trägt der Kläger weder vor, ob und wie er selbst zu dem Beweisergebnis des Prof. Dr. H. Stellung genommen hat, noch welche Position die Beklagte eingenommen hat. Dies wäre aber notwendig, um beurteilen zu können, welche berechtigten Erwartungen der Kläger in Bezug auf die gerichtliche Entscheidung haben konnte.

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Aus dem vom Kläger in Bezug genommenen Urteil ergibt sich zudem, dass sich das LSG bei seiner Bewertung von der vollschichtigen Einsetzbarkeit des Klägers nicht nur auf das Gutachten von Prof. Dr. H. gestützt hat, sondern auch "dem im Wege des Urkundenbeweises verwertbaren Gutachten des Arztes P. und den insoweit übereinstimmenden Stellungnahmen der Sozialmedizinerin Dr. L." gefolgt ist. Der Kläger hat aber nicht ausgeführt, ob er sich zu diesen Unterlagen äußern konnte und was sich aus diesen ergibt. Dies wäre erforderlich gewesen, denn grundsätzlich ist das Gericht nicht verpflichtet, den Ausführungen eines medizinischen Sachverständigen zu folgen, insbesondere wenn unterschiedliche Ergebnisse vorliegen (vgl BSG Beschluss vom 27.6.2016 - B 9 SB 18/16 B - Juris RdNr 6).

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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

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Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.