BSG 14. Senat, Urteil vom 28.11.2018, B 14 AS 48/17 R

Das Urteil unter dem Aktenzeichen B 14 AS 48/17 R (BSG)

vom 28. November 2018 (Mittwoch)


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Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 17. November 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

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Umstritten ist die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Januar 2010 bis Januar 2011 unter Berücksichtigung von Reisekosten für den Besuch der zunächst in Ungarn inhaftiert gewesenen Tochter der Klägerin.

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Die 1961 geborene Klägerin bezog im streitbefangenen Zeitraum Alg II (zuletzt Bescheid vom 20.10.2009 für August 2009 bis Januar 2010; Bescheid vom 12.1.2010 für Februar 2010 bis Juli 2010; Bescheid vom 6.7.2010 für August 2010 bis Januar 2011). Mit Schreiben vom 7.6.2010 beantragte sie beim beklagten Jobcenter höhere Leistungen für Besuche bei ihrer 1986 geborenen Tochter, die seit Dezember 2009 in Ungarn in Untersuchungshaft einsitze. Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 9.6.2010; Widerspruchsbescheid vom 16.7.2010). Mit ihrer Klage verfolgte die Klägerin zuletzt das Ziel, den Beklagten zur Zahlung von weiteren 2570 Euro zu verurteilen. Als ihre Tochter wegen des Vorwurfs der Beteiligung an einem deren Lebensgefährten zur Last gelegten Tötungsdelikt in Ungarn in Haft gekommen sei, habe sie sich ungeachtet früherer Differenzen verpflichtet gefühlt, ihr beizustehen, und das Jobcenter auf künftige Ortsabwesenheiten hingewiesen. Für die monatlichen Besuche von Januar bis Oktober 2010 in Ungarn und anschließend bis zur Entlassung ihrer Tochter zweimal im Monat in B habe sie sich bei Verwandten und Freunden Geld geliehen.

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Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10.1.2014), das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 17.11.2016): Ansprüche wegen der Besuche bei der Tochter bestünden nicht. Vor der Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - habe dafür schon keine Rechtsgrundlage bestanden. Im Übrigen erfolge der Umgang im Verhältnis zu erwachsenen Kindern auf freiwilliger Basis und in Erfüllung ausschließlich sittlicher Verpflichtungen, die keinen existenznotwendigen Bedarf begründeten.

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Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin in Bezug auf Januar 2010 als Verfahrensfehler die unterbliebene Beiladung des Sozialhilfeträgers und im Übrigen materiell die Verletzung von § 21 Abs 6 SGB II. Die Unterstützung der eigenen Kinder gehöre zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen. Ihre der ungarischen Sprache nicht mächtige Tochter sei von der Situation völlig überfordert gewesen.

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Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 17. November 2016 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 10. Januar 2014 zu ändern, den Bescheid des Beklagten vom 9. Juni 2010 aufzuheben und den Bescheid vom 6. Juli 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Juli 2010 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, seinen Bescheid vom 12. Januar 2010 zu ändern sowie der Klägerin 2325,00 Euro zu zahlen,
und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen, soweit Leistungen in Höhe von 245,00 Euro für Januar 2010 in Streit stehen.

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Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

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Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Zutreffend macht die Klägerin geltend, dass auch zur Deckung von Reisekosten zum Besuch volljähriger Kinder in einer Sondersituation zusätzliche existenzsichernde Leistungen zu erbringen sein können. Ob die Voraussetzungen dafür hier vorlagen und ihr daher weiteres Alg II zu zahlen ist, vermag der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.

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1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 9.6.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.7.2010, durch den der Beklagte es auf das Schreiben vom 7.6.2010 der Sache nach abgelehnt hat, die Bewilligungsbescheide für die Zeit von August 2009 bis Januar 2010, Februar bis Juli 2010 und August 2010 bis Januar 2011 zu ändern und der Klägerin wegen der zwischen Januar 2010 und Januar 2011 unternommenen Fahrten zu ihrer Tochter höheres Alg II unter Berücksichtigung eines Härtefallmehrbedarfs nach § 21 Abs 6 SGB II zu zahlen. Begrenzt auf den zuletzt geltend gemachten Betrag - aber nicht beschränkt auf den Härtefallmehrbedarf, über den nicht isoliert zu entscheiden ist (vgl nur BSG vom 29.4.2015 - B 14 AS 8/14 R - BSGE 119, 7 = SozR 4-4200 § 21 Nr 22, RdNr 12 mwN) - ist danach streitbefangen, ob der Klägerin für Januar 2010 bis Januar 2011 weitere 2570 Euro zur Sicherung des Lebensunterhalts zustehen.

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2. Zutreffend und auch sonst zulässig verfolgt die Klägerin ihr Begehren im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG), soweit sie wegen der Leistungen für Januar 2010 der Sache nach eine Korrektur des insoweit zuletzt ergangenen Bescheids vom 20.10.2009 wegen nachträglicher Änderung nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X geltend macht. Dagegen ist die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 iVm § 56 SGG) richtige Klageart, soweit ihr Schreiben vom 7.6.2010 für die Zeit von Februar bis Juli 2010 sinngemäß auf die Überprüfung des zu diesem Zeitpunkt bereits erlassenen Bescheids vom 12.1.2010 nach § 44 SGB X zielte (vgl nur BSG vom 30.3.2017 - B 14 AS 55/15 R - RdNr 12 mwN). So verhält es sich schließlich ebenfalls, soweit dem Widerspruchsbescheid vom 16.7.2010 mittelbar zu entnehmen ist, dass die Besuche bei der inhaftierten Tochter generell - unabhängig vom Überprüfungszeitraum - keinen Anlass für eine Überprüfung der bewilligten Leistungen geben und sich der Widerspruchsbescheid damit Geltung auch für den - zwischenzeitlich mit Bescheid vom 6.7.2010 verbeschiedenen - Bewilligungszeitraum von August 2010 bis Januar 2011 beimisst, was entsprechend § 68 Abs 1 Satz 2 Nr 2 VwGO vor Erhebung der Klage die Durchführung eines (weiteren) Überprüfungsverfahrens zu diesem Bescheid entbehrlich macht (vgl zur prozessualen Lage, wenn der Widerspruchsbescheid eine zusätzliche selbständige Beschwer enthält, nur BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 35/16 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 82, auch vorgesehen für BSGE, RdNr 14 mwN).

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3. Der Sachentscheidung steht als prozessuales Hindernis nicht entgegen, dass die Klage von dem Onkel der Klägerin durch nicht unterschriebenes Telefax erhoben worden ist. Der Onkel war als Familienangehöriger zur Vertretung befugt (§ 73 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGG iVm § 15 Abs 1 Nr 7 AO). Anhaltspunkte dafür, dass die Klage ohne den Willen der Klägerin in den Verkehr gelangt ist (vgl B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 90 RdNr 5a mwN), bestehen nicht.

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4. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs unter teilweiser Rücknahme der Bewilligungsbescheide für Februar 2010 bis Januar 2011 (zur Rechtslage im Januar 2010 unter 8.) ist § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II (hier in der im Zeitpunkt der Entscheidung über den Überprüfungsantrag unverändert geltenden Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954; zur Maßgeblichkeit des im Zeitpunkt der Aufhebung geltenden Rechts vgl letztens BSG vom 25.4.2018 - B 14 AS 15/17 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4, RdNr 10 mwN) iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X und § 19 iVm §§ 7, 9, 11 ff, 20 ff SGB II; maßgebend in der Fassung des SGB II zunächst zum 9.2.2010 durch das Urteil des BVerfG von diesem Tag - 1 BvL 1/09 ua - (BGBl I 193) und zuletzt zum 3.6.2010 durch das Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates und zur Übertragung der fortzuführenden Aufgaben auf den Stabilitätsrat sowie zur Änderung weiterer Gesetze vom 27.5.2010 (BGBl I 671; zur Maßgeblichkeit des zum damaligen Zeitpunkt geltenden Rechts in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume - Geltungszeitraumprinzip - vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 15 mwN).

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Auch nach Unanfechtbarkeit ist hiernach ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind (§ 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 44 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGB X). Das ist zwar im Hinblick auf die der Klägerin ansonsten zuerkannten Leistungen nicht ersichtlich (zur Beachtlichkeit dessen im Rahmen von Überprüfungsverfahren vgl BSG vom 24.5.2017 - B 14 AS 32/16 R - BSGE 123, 199 = SozR 4-4200 § 11 Nr 80, RdNr 17 ff). Nicht ausgeschlossen ist aber, dass Aufwendungen zum Besuch ihrer Tochter als Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs 6 SGB II anzuerkennen sind (dazu 5. bis 7.) und deshalb höheres Alg II zu zahlen ist (§ 19 Abs 1 Satz 3 SGB II).

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5. Anders nicht gedeckte und nicht nur einmalige Aufwendungen zum Besuch eines nahen Angehörigen können entgegen der Auffassung des LSG in einer Sondersituation einen Härtefallmehrbedarf begründen.

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a) Im Ausgangspunkt liegt der Berufungsentscheidung allerdings zutreffend zu Grunde, dass Aufwendungen zur Kontaktpflege unter Angehörigen der Art nach grundsätzlich ausschließlich aus dem Regelbedarf nach § 20 SGB II zu bestreiten sind. Zur Deckung der vom Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums neben einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfassten Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen (vgl nur BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175, 223 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 135) war in den der Teilhabe zuzuordnenden regelbedarfsrelevanten (früher: regelleistungsrelevanten) Verbrauchsgruppen im hier streitbefangenen Jahr 2010 nach § 2 Abs 2 RSV in den Abteilungen 07 (Verkehr mit 20 Euro), 08 (Nachrichtenübermittlung mit 23,29 Euro), 09 (Freizeit usw mit 40,72 Euro) und 11 (Beherbergung ua 10,47 Euro) ein Gesamtbetrag von 94,48 Euro vorgesehen (vgl Schwabe, ZfF 2010, 145, 150). Darin waren Aufwendungen für Verwandtenbesuche eingeschlossen (vgl BT-Drucks 17/3404 S 63 zur Nichtberücksichtigung von Übernachtungskosten bei Verwandtenbesuchen). Verfassungsrechtlich im Grundsatz unbedenklich (vgl aber BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12 - BVerfGE 137, 34 = SozR 4-4200 § 20 Nr 20, RdNr 117 ff) sind die Leistungsberechtigten danach zumutbar darauf verwiesen, punktuelle Unterdeckungen in der Regel intern auszugleichen und ihr Verbrauchsverhalten so zu gestalten, dass sie mit dem Festbetrag auskommen (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175, 238 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 172; BSG vom 12.7.2012 - B 14 AS 153/11 R - BSGE 111, 211 = SozR 4-4200 § 20 Nr 17, RdNr 60 mwN; zur Lage speziell beim "allgemeinen Verwandtenbesuch" vgl Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 73 RdNr 20, Stand 09/16; zur Konzeption der Regelbedarfsermittlung vgl zuletzt auch BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 33/17 R - vorgesehen für SozR 4, RdNr 16).

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b) Lassen sich dem Regelbedarf zugeordnete und nicht nur einmalige Aufwendungen in einer Sondersituation mit zumutbarem internem Ausgleich (zu den Grenzen vgl BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12 ua - BVerfGE 137, 34 = SozR 4-4200 § 20 Nr 20, RdNr 117) nicht bestreiten, können zu ihrer Deckung nach der im Anschluss an die Regelsatz-Entscheidung des BVerfG eingeführten Regelung des § 21 Abs 6 SGB II (hier idF des am 3.6.2010 in Kraft getretenen Gesetzes vom 27.5.2010, BGBl I 671; zu den Motiven vgl BT-Drucks 17/1465 S 8 f) iVm § 19 Abs 1 Satz 3 SGB II zusätzliche existenzsichernde Leistungen zu erbringen sein. Danach gilt: Bei Leistungsberechtigten wird ein nach § 19 Abs 1 Satz 3 SGB II von den Leistungen umfasster Mehrbedarf ua anerkannt, "soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht".

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c) Dem Grunde nach als besondere Bedarfslage in diesem Sinne anerkannt ist im familiären Kontext die Ausübung des Umgangsrechts getrennt lebender Elternteile mit ihren minderjährigen Kindern. Die Aufrechterhaltung dieser Eltern-Kind-Beziehung hat bereits das BVerwG der notfalls mit Mitteln der Sozialhilfe zu sichernden menschenwürdigen Lebensführung zugerechnet und als persönliches Bedürfnis des täglichen Lebens angesehen, das - anders als die Beziehungen zur sozialen Umwelt, die mit sachgerechten Maßstäben kaum einzugrenzen seien - nicht unter dem Vorbehalt des Vertretbaren stehe (BVerwG vom 18.2.1993 - 5 C 30.89 - BVerwGE 92, 97, 99). Dem Umfang nach sind die daraus sich ergebenden Ansprüche vorrangig an den Abreden der Eltern zu bemessen; auch existenzsicherungsrechtlich ist maßgebend, wie die Eltern ihre durch Art 6 Abs 2 Satz 1 GG geschützte Entscheidung über die Ausübung ihrer Elternverantwortung handhaben (BVerfG <Kammer> vom 25.10.1994 - 1 BvR 1197/93 - FamRZ 1995, 86, 87).

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Dem hat sich das BSG für das SGB II angeschlossen, zunächst gestützt auf § 73 SGB XII (grundlegend BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R - BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 21 ff) und im Anschluss an die Regelsatz-Entscheidung des BVerfG auf § 21 Abs 6 SGB II (BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 20; BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - BSGE 117, 240 = SozR 4-4200 § 21 Nr 19, RdNr 15; ebenso etwa Behrend in jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 21 RdNr 98 ff; von Boetticher in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 21 RdNr 43; S. Knickrehm/Hahn in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 21 RdNr 74; Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, K § 21 RdNr 83 ff, Stand 05/2011). Härtefallmehrbedarfe wegen eines Umgangsrechts bestehen danach unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls in Höhe der kostengünstigsten und gleichwohl bezogen auf den verfassungsrechtlichen Schutz des Umgangsrechts verhältnismäßigen sowie zumutbaren Art der Bedarfsdeckung (BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - BSGE 117, 240 = SozR 4-4200 § 21 Nr 19, RdNr 21 ff), soweit wegen Getrenntlebens der Eltern oder - liegen besondere rechtfertigende Gründe dafür vor - bei getrennten Wohnsitzen (hierzu BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 27) eine grundsicherungsrechtlich beachtliche Trennungssituation besteht.

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d) Entsprechendes gilt - unter Beachtung der Unterschiede zur Ausübung des Umgangsrechts - ebenso für intensive Familienbindungen jenseits der umgangsrechtlichen Eltern-Kind-Beziehung. Auch zwischen Erwachsenen oder im Großeltern-Kind-Verhältnis können verwandtschaftliche Bindungen für die personale Existenz von herausgehobener Bedeutung sein, wie deren besonderer Schutz durch Art 6 Abs 1 GG belegt (vgl dazu nur BVerfG vom 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13 - BVerfGE 136, 382 RdNr 22). Dem ist bei der Auslegung der Härtefallklausel des § 21 Abs 6 SGB II Rechnung zu tragen. Das verfassungsrechtlich zu gewährleistende Existenzminimum hat außer der physischen Seite wegen der notwendigen Existenz des Menschen in sozialen Bezügen neben einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen zu sichern (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175, 223 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 135; zum Verhältnis von Eltern und volljährigen Kindern vgl nur BVerfG vom 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80, 81, 90 f; BVerfG <Kammer> vom 21.7.2005 - 1 BvR 817/05 - NVwZ-RR 2005, 825, 826). Hierbei kann verwandtschaftlichen Bindungen auch außerhalb des Schutzbereichs von Art 6 Abs 2 Satz 1 GG besonderer Stellenwert zukommen, wenn sie als tatsächlich gelebte Beziehung von besonderer Nähe, familiärer Verantwortlichkeit füreinander sowie Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt sind (vgl zu Art 6 Abs 1 GG und dem Kreis der davon umfassten Verwandtschaftsbeziehungen BVerfG vom 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13 - BVerfGE 136, 382 RdNr 23 mwN) und deshalb für die individuelle personale Existenz herausgehobene Bedeutung haben. Unter Berücksichtigung dessen kann in Sondersituationen zur Ermöglichung der Begegnung naher Angehöriger ein Härtefallmehrbedarf nicht anders als beim Umgangsrecht anzuerkennen sein.

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e) Eine solche Bedarfslage kommt in Betracht bei einer dem Einfluss des zu Besuchenden entzogenen außergewöhnlichen - bei der Bemessung des Regelbedarfs nicht berücksichtigten (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175, 254 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 207 f) - Situation, in der einem Leistungsberechtigten gemessen am personalen Sicherungszweck des verfassungsrechtlich zu gewährleistenden Existenzminimums unter Berücksichtigung der Intensität der konkreten verwandtschaftlichen Beziehung (vgl BVerfG vom 24.6.2014 - 1 BvR 2926/13 - BVerfGE 136, 382 RdNr 23 aE) sowie aller weiterer Umstände des Einzelfalls (zum Umgangsrecht vgl nur BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - BSGE 117, 240 = SozR 4-4200 § 21 Nr 19, RdNr 21, 23 mwN) ein Verzicht auf die Begegnung mit dem iS von Art 6 Abs 1 GG nahen Angehörigen nicht zugemutet werden kann; sei es, um die Beziehung in einer ihrer Bedeutung gerecht werdenden Weise aufrechterhalten oder Beistand leisten zu können. Angenommen werden kann das insbesondere bei erheblichen Notlagen oder einer ungewollten - rechtlich oder tatsächlich nicht änderbaren - Trennung familienrechtlich nicht getrennt lebender Eheleute, die über längere Zeit anhält und einen als erheblich anzusehenden Wunsch nach kontinuierlicher Begegnung begründet (vgl etwa LSG Sachsen-Anhalt vom 22.6.2016 - L 4 AS 196/15 - info also 2017, 30: Regelmäßige Besuche beim dauerhaft in einer stationären Einrichtung untergebrachten Ehemann). Ist eine Kommunikation über Brief, Telefon oder Internetdienste nicht möglich oder erscheint sie nachvollziehbar als nicht ausreichend (vgl zur Bedeutung der - allerdings durch Art 6 Abs 2 Satz 1 GG geschützten - elterlichen Umgangsentscheidung BVerfG <Kammer> vom 25.10.1994 - 1 BvR 1197/93 - FamRZ 1995, 86 f), können danach Notlagen von erheblichem Gewicht oder eine ungewollte und nicht behebbare räumliche Trennung naher Angehöriger (zu einem Sonderfall familienrechtlich nicht getrennt lebender Eheleute vgl BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 25 f) über einen längeren Zeitraum hinweg einen existenzsicherungsrechtlich beachtlichen Besuchsanlass bilden, wenn dies dem gelebten Verhältnis der Beteiligten und seiner Bedeutung für die personale Existenz des Leistungsberechtigten entspricht.

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6. Dass der besuchte Angehörige sich im Ausland aufhält, steht der Anerkennung eines Härtefallmehrbedarfs wegen der Besuchsaufwendungen nicht entgegen. Zwar sind Mobilitätsausgaben mit Auslandsbezug im Regelbedarf insoweit nicht berücksichtigt, als in Abteilung 07 fremde Verkehrsdienstleistungen nur eingegangen sind, soweit sie nicht im Luftverkehr anfallen (vgl Schwabe, ZfF 2010, 145, 150). Ähnlich außer Ansatz geblieben sind in der Abteilung 09 "Freizeit, Unterhaltung, Kultur" die Aufwendungen für "Pauschalreisen" und in der Abteilung 11 "Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen" für "Übernachtungen" (vgl BT-Drucks 17/3404 S 62 f). Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass Mobilitätsaufwendungen mit Auslandsbezug im SGB II selbst schlechthin nicht bedarfsrelevant sind und deshalb nach der Regelungskonzeption des Gesetzgebers bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen nach § 73 SGB XII ggf vom zuständigen Sozialhilfeträger zu decken wären.

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Das hat das BSG zum Umgangsrecht bereits entschieden (vgl BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21; zur instanzgerichtlichen Rspr vgl ebenso etwa nur LSG Nordrhein-Westfalen vom 17.3.2014 - L 7 AS 2392/13 B ER - ZFSH/SGB 2014, 296). Anderes ist auch im Übrigen nach der ratio des § 21 Abs 6 SGB II und der Maßgabe des BVerfG nicht zu erkennen, in Sonderfällen auftretende zusätzliche Bedarfe im Leistungssystem des SGB II selbst zu decken (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175, 259 f = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 220). Angesichts dessen kann den Entscheidungen gegen die Berücksichtigung von Aufwendungen für Urlaubsreisen wie für Flugverkehrsausgaben bei der Regelbedarfsbemessung keine grundsätzlich systemabgrenzende Wirkung beigemessen werden; sie lassen sich nur dahin verstehen, dass solchen Aufwendungen keine existenznotwendige Bedeutung beigemessen worden ist.

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7. Ob und ggf in welchem Umfang die Klägerin im Zeitraum zwischen Februar 2010 und Januar 2011 (zu Januar 2010 unter 8.) Anspruch auf höheres Alg II unter Anerkennung eines Mehrbedarfs zunächst auf Grundlage der Anordnung des BVerfG in der Regelsatz-Entscheidung (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175, 259 f = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 220; zur Begründung eines Leistungsanspruchs unmittelbar hieraus gegen den Beklagten vgl BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 14) und ab Inkrafttreten auf der Grundlage von § 21 Abs 6 SGB II hat, kann der Senat nach den Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden. Zwar erscheint ein solcher Anspruch zumindest dem Grunde nach nicht ausgeschlossen angesichts dessen Einschätzung, dass die Klägerin mit den Besuchen einer sittlichen Verpflichtung nachgekommen und ein gesteigertes Bedürfnis nachvollziehbar sei, ihrer Tochter in einer Ausnahmesituation beizustehen. Für die Entscheidung darüber, ob die Klägerin im Hinblick auf ihr persönliches Verhältnis zu ihrer Tochter und deren persönlicher Situation unter Berücksichtigung der sonstigen Kommunikationsmöglichkeiten nachvollziehbar monatliche Besuche in der Haftanstalt zunächst in Ungarn und dann in Bamberg als erforderlich ansehen durfte, sind jedoch noch nähere Feststellungen insbesondere zu den Umständen der Inhaftierung und den Auswirkungen auf die Tochter notwendig.

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8. Im wiedereröffneten Berufungsverfahren besteht wegen des geltend gemachten Anspruchs für Januar 2010 Gelegenheit, den zuständigen Sozialhilfeträger als möglichen anderen Leistungsverpflichteten gemäß § 75 Abs 2 Alternative 2 SGG (unechte notwendige Beiladung) beizuladen. Nach dieser Vorschrift ist ein anderer Versicherungsträger, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ein Träger der Sozialhilfe, ein Träger der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts ein Land (notwendig) beizuladen - und kann nach § 75 Abs 5 SGG nach Beiladung verurteilt werden -, wenn sich im Verfahren ergibt, dass bei der Ablehnung des Anspruchs dieser Leistungsträger als leistungspflichtig in Betracht kommt. Hierfür ist es nicht erforderlich, dass es für das LSG als erkennendes Gericht bereits feststeht, dass der Beklagte nicht leistungspflichtig ist; vielmehr genügt die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Leistungsverpflichteten (vgl nur BSG vom 25.4.2013 - B 8 SO 16/11 R - RdNr 10 mwN).

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Jedenfalls als solche Möglichkeit ist die Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers nach § 73 SGB XII in Betracht zu ziehen, nachdem Ansprüche gegen den Beklagten auf Grundlage des Urteils vom 9.2.2010 des BVerfG erst für die Zeit ab dessen Verkündung bestehen (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175, 259 f = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 220) und das Urteil Ansprüche nach § 73 SGB XII gegen den Sozialhilfeträger nicht ausschließt (vgl nur BSG vom 19.8.2010 - B 14 AS 13/10 R - SozR 4-3500 § 73 Nr 3 RdNr 23). Inwieweit hinsichtlich der nach § 18 Abs 1 SGB XII (Kenntnisgrundsatz) erforderlichen Kenntnis des Sozialhilfeträgers auf die diesem zuzurechnende Kenntnis des beklagten Jobcenters von der Anspruchsberechtigung der Klägerin dem Grunde nach zu verweisen (vgl BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 39; BSG vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 47 RdNr 33; BSG vom 30.8.2017 - B 14 AS 31/16 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 53 RdNr 55-56, vorgesehen auch für BSGE) oder erst auf die spätere Information des Beklagten durch das Schreiben vom 7.6.2010 abzustellen ist (vgl BSG vom 20.4.2016 - B 8 SO 5/15 R - BSGE 121, 139 = SozR 4-3500 § 18 Nr 3), kann für die Beiladung nach § 75 Abs 2 Alternative 2 SGG offenbleiben.

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9. Die Verfahrensrüge der Klägerin wegen fehlender Beiladung des Sozialhilfeträgers kann im Hinblick auf die ohnehin erforderliche Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dahinstehen.