BSG, Beschluss vom 05.06.2019, B 3 KR 56/18 B

Das Urteil unter dem Aktenzeichen B 3 KR 56/18 B (BSG)

vom 5. Juni 2019 (Mittwoch)


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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 14. Juni 2018 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

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I. Das LSG Niedersachsen-Bremen hat mit Urteil vom 14.6.2018 den Anspruch der Klägerin auf Krankengeld (Krg) über den 29.2.2016 hinaus verneint. Es hat sich auf die Entscheidungsgründe im Urteil des SG Stade vom 19.9.2017 bezogen und Folgendes ergänzt: Der Anspruch auf Krg setze voraus, dass die ärztliche Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit (AU) wegen derselben Krankheit spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der AU erfolge. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt, weil die AU zunächst bis zum 29.2.2016 (Montag) attestiert und die weitere AU erst am 2.3.2016 (Mittwoch) ärztlich festgestellt worden sei. Unerheblich sei dabei, ob nach der AU-Richtlinie eine rückwirkende Bescheinigung über das Vorliegen von AU ausgestellt werden dürfe. Ein Ausnahmefall, in dem durch die nachträgliche ärztliche Feststellung der AU der Anspruch auf Krg trotz fehlender ärztlicher Bescheinigung gewahrt werde, liege nicht vor. Dafür müsse der Versicherte seine Obliegenheit erfüllen, für eine zeitgerechte ärztliche Feststellung der geltend gemachten AU Sorge zu tragen und alles in seiner Macht Stehende getan haben, um seine Ansprüche zu wahren. Dies sei vorliegend nicht der Fall, weil die Klägerin, auch wenn die Praxis ihres behandelnden Arztes in der Zeit vom 29.2.2016 bis 1.3.2016 geschlossen gewesen sei, das Fortbestehen der AU durch einen Vertretungsarzt oder ggf den ärztlichen Notdienst hätte attestieren lassen können.

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Gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil hat die Klägerin Beschwerde eingelegt. Sie macht geltend, die Entscheidung des LSG weiche von einer Entscheidung des BSG ab (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG), die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und das LSG habe den Verfahrensgrundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs nach § 62 SGG verletzt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Klägerin die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht formgerecht dargetan hat (§ 160a Abs 2 S 3 SGG). Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 Abs 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

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1. Divergenz liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn das Urteil des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die oberstgerichtliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr vgl zum Ganzen BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 17 mwN).

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Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Die Klägerin führt aus, die Entscheidung des LSG beruhe auf folgendem Rechtssatz:

        

"Die Voraussetzungen für das Fortbestehen einer lückenlosen Arbeitsunfähigkeit für die Beurteilung eines Anspruchs auf Krankengeld kommt es nicht darauf an, ob eine rückwirkende Bescheinigung über das Vorliegen von AU nach § 5 Abs. 3 AU-RL ausgestellt werden darf, sondern entscheidend ist, ob die ärztliche Feststellung der AU rechtzeitig, d. h. nahtlos erfolgt und auch kein Ausnahmefall vorliegt. Von einem Ausnahmefall nach dem LSG ist dann nicht auszugehen, wenn das Fortbestehen der AU bereits zu einem früheren Zeitpunkt durch einen Vertretungsarzt oder ggf. den ärztlichen Notdienst hätte attestiert werden können."

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Demgegenüber habe das BSG im Urteil vom 11.5.2017 (B 3 KR 22/15 R) den tragenden Rechtssatz aufgestellt:

        

"dass Ausnahmen von der Regel anzuerkennen sind, wenn der Versicherte die ihm vom Gesetz übertragene Obliegenheit, für eine zeitgerechte ärztliche Feststellung der geltend gemachten AU Sorge zu tragen erfüllt, wenn er alles in seiner Macht stehende getan hat, um die ärztliche Feststellung zu erhalten."

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Eine Divergenz wird damit nicht dargetan, weil nicht hinreichend aufgezeigt wird, dass sich zwei abstrakte Rechtssätze widersprechen. Der von der Klägerin dargelegte Rechtssatz des BSG, dass der Versicherte alles in seiner Macht Stehende getan haben muss, um die ärztliche Feststellung zu erhalten, ist als abstrakter Obersatz durch die Subsumtion des Tatbestandes im Einzelfall zur Anwendung zu bringen. Genau diese Subsumtion hat das LSG vorgenommen und ist dabei im Einzelfall zu dem Schluss gekommen, dass die Klägerin noch nicht alles in ihrer Macht Stehende getan habe, um ihre Ansprüche zu wahren, weil sie das Fortbestehen der AU bereits zu einem früheren Zeitpunkt durch einen Vertretungsarzt oder ggf den ärztlichen Notdienst hätte attestieren lassen können. Das LSG hat aber gerade nicht den Kriterien des BSG widersprochen und andere rechtliche Maßstäbe entwickelt, sondern vielmehr selbst den von der Klägerin dargelegten Rechtssatz des BSG zitiert, dass der Versicherte alles in seiner Macht Stehende getan haben müsse, um die ärztliche Feststellung zu erhalten. Es hat damit deutlich gemacht, dass es im Grundsätzlichen mit diesem Rechtssatz übereinstimmt. Unerheblich ist die vorgenommene Subsumtion im Einzelfall, denn selbst wenn diese unrichtig wäre, könnte dies die Zulässigkeit der Revision nicht begründen. Es kommt daher weder darauf an, ob die Klägerin im Einzelfall tatsächlich das Fortbestehen der AU zu einem früheren Zeitpunkt hätte attestieren lassen können, noch darauf, ob sie nach den Einzelfallumständen bereits alles in ihrer Macht Stehende getan hat, um die ärztliche Feststellung zu erhalten. Denn eine (mögliche) Unrichtigkeit im Einzelfall stellt noch keinen Grund zur Zulassung der Revision wegen Divergenz dar.

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2. Auch ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könnte, ist nicht hinreichend dargelegt (§ 160a Abs 2 S 3 SGG). Dafür müssen die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

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Wird die Verletzung rechtlichen Gehörs als Verfahrensmangel gerügt, muss grundsätzlich vorgetragen werden, welchen erheblichen Vortrag das Gericht nicht zur Kenntnis genommen hat oder welches Vorbringen verhindert worden ist und inwieweit das Urteil darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 4; BSG Beschluss vom 19.7.2010 - B 8 SO 35/10 B; BSG Beschluss vom 8.2.2006 - B 1 KR 65/05 B). Dies hat die Klägerin versäumt. Sie macht lediglich geltend, das LSG sei ohne konkrete Anhaltspunkte und ohne Feststellung davon ausgegangen, es habe einen Vertretungsarzt gegeben und der ärztliche Notdienst sei für die Klägerin erreichbar gewesen. Sie legt aber nicht dar, was sie vorgetragen hätte, wenn sie dazu angehört worden wäre. Darüber hinaus fehlen Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit, dh dazu, dass die Entscheidung auf dem (vermeintlichen) Anhörungsmangel beruhen könnte. Vor dem Hintergrund, dass die Klägerin die AU am 29.2.2016 oder 1.3.2016 weder durch einen Vertretungsarzt oder den ärztlichen Notdienst noch durch einen anderen Arzt attestieren ließ, fehlt es an hinreichenden Darlegungen dazu, dass die Klägerin alles in ihrer Macht Stehende getan habe, um die ärztliche Feststellung zu erhalten. Aus diesem Grund ist auch eine Verletzung der Aufklärungsmaxime nicht hinreichend dargelegt.

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3. Grundsätzliche Bedeutung, an deren Darlegung es hier ebenfalls fehlt, hat eine Rechtssache dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine solche Klärung erwarten lässt (vgl zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65).

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Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.

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Die Klägerin hält folgende Frage für klärungsbedürftig:

 "Ist es möglich durch eine rückwirkende Bescheinigung nach § 5 Abs. 3 S. 5 AU-RL die lückenlose Arbeitsunfähigkeit für die Beurteilung eines Anspruches auf Krankengeld, d. h. nahtlos zu erbringen."

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Diesbezüglich fehlt es an Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit, weil es hierzu umfangreiche Rechtsprechung (Rspr) gibt, mit der sich die Klägerin in keiner Weise auseinandersetzt (vgl nur BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 20 ff mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der Rspr). Insbesondere ist in ständiger Rspr geklärt, dass maßgebend für den Krg-Beginn nicht der "wirkliche" oder der "ärztlich attestierte" Beginn der AU ist, sondern der Zeitpunkt der ärztlichen Feststellung (in Bezug auf die Regelung des § 46 S 1 Nr 2 SGB V in der Fassung durch das Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17.7.2009 <BGBl I 1990, gültig vom 1.8.2009 bis 22.7.2015 - aF ->, daher der Folgetag nach der ärztlichen Feststellung - so ausdrücklich BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8, RdNr 15; BSG SozR 4-2500 § 46 Nr 2 RdNr 15). Gründe für eine rückwirkende Entstehung des Anspruchs oder einen über diese Rspr hinausgehenden Klärungsbedarf hat die Klägerin weder zu der bis zum 22.7.2015 geltenden Fassung des § 46 S 1 Nr 2 SGB V aF dargelegt, noch zu der in der Zeit vom 23.7.2015 bis 10.5.2019 geltenden und damit hier anwendbaren Fassung des § 46 S 1 Nr 2 SGB V (durch das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung <GKV-Versorgungsstärkungsgesetz> vom 16.7.2015, BGBl I 1211), nach der der Anspruch von dem Tag der ärztlichen Feststellung der AU an entsteht.

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4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

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5. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 Abs 1 SGG.