BSG 5. Senat, Beschluss vom 27.06.2019, B 5 RE 10/18 B

Das Urteil unter dem Aktenzeichen B 5 RE 10/18 B (BSG)

vom 27. Juni 2019 (Donnerstag)


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Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Beschwerdefrist - elektronischer Rechtsverkehr - elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach - Übermittlung eines Dokuments mit unzulässiger Container-Signatur - Verfahrensfehler - Gehörsrüge - angeordnetes persönliches Erscheinen - unberücksichtigter Terminverlegungsantrag - erheblicher Terminsverlegungsgrund

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. September 2017 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückverwiesen.

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I. Die Beteiligten streiten über eine Versicherungspflicht der Klägerin in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen nicht erwerbsmäßiger Pflege ihrer Mutter in der Zeit vom 1.9.1997 bis zum 31.8.2006.

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Mit Bescheid vom 2.8.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.3.2013 stellte die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund (Beklagte zu 2) fest, dass die Klägerin in der Zeit vom 1.1.1997 bis zum 27.5.2008 nicht der Versicherungspflicht als nicht erwerbsmäßig tätige Pflegeperson nach § 3 S 1 Nr 1a SGB VI unterlag. Mit Urteil vom 20.1.2016 hat das SG die Klage abgewiesen.

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Im Berufungsverfahren hat das LSG Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 21.9.2017 um 13.30 Uhr bestimmt und das persönliche Erscheinen der Klägerin angeordnet. Die Sache wurde um 13.41 Uhr aufgerufen und die mündliche Verhandlung um 14.00 Uhr geschlossen. Die Klägerin ist nicht erschienen. Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

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Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG und beruft sich auf einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG wegen Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG). Sie trägt dazu vor, sie habe mit ihrer Schwester und damaligen Prozessbevollmächtigten mit ihrem Kfz zum LSG fahren wollen. Das scheckheftgepflegte und bis dato zuverlässige Auto habe sich gegen 8.30 Uhr nicht starten lassen. In einem Telefonat mit der Werkstatt sei ihr mitgeteilt worden, dass der Fehler möglicherweise an der Lichtmaschine liege und eine Fahrt aktuell nicht möglich sei. Ihre Prozessbevollmächtigte habe deshalb bei der auf dem Ladungsformular angegebenen Telefonnummer angerufen und mitgeteilt, dass sie und die Klägerin den Termin wegen einer Autopanne nicht wahrnehmen könnten und um Terminsverschiebung gebeten. Ihrer Bevollmächtigten sei mitgeteilt worden, dass diese Information sofort weitergeleitet werde. Sie habe dies so verstanden, dass ein neuer Termin angesetzt werde. Sie sei nicht aufgefordert worden, mit alternativen Fahrzeugen, die ohnehin nicht zur Verfügung gestanden hätten, anzureisen oder eine Entscheidung des Gerichts abzuwarten. Da das Gericht ihr persönliches Erscheinen angeordnet und sie im Verfahren zu erkennen gegeben habe, dass ihr an einer persönlichen Klärung gelegen sei, habe das Gericht auch nicht davon ausgehen können, dass sie den Termin unentschuldigt nicht wahrnehmen würde. Zum Beweis dieses Vortrages hat die Klägerin ein Telefonprotokoll sowie die Rechnung einer Autowerkstatt über eine Reparatur am Terminstag vorgelegt.

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Die Beschwerdebegründung wurde am 3.1.2018, einen Tag vor Ablauf der Begründungsfrist, als PDF-Dokument mit weiteren elektronischen Dokumenten mit einer gemeinsamen qualifizierten elektronischen Signatur (qeS) an das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des BSG (dh durch sogenannte Container-Signatur) übermittelt.

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Auf Anfrage des Senats hat das LSG mitgeteilt, dass es sich bei der in dem vorgelegten Telefonprotokoll ausgewiesenen Rufnummer um die zentrale Rufnummer des Gerichts handele. Anrufe unter dieser Rufnummer gingen nicht bei der für den Senat zuständigen Serviceeinheit ein, sondern in der Informationszentrale des Gerichts, die auch für weitere Gerichte im Haus zuständig sei. Eingehende Telefonate würden von dort an den gewünschten Ansprechpartner im Haus weitervermittelt, eine Liste eingehender Anrufe werde in der Telefonzentrale nicht geführt. Der zuständigen Serviceeinheit, die darin geschult sei, am Terminstag in den anberaumten Terminen eingehende schriftliche oder telefonische Mitteilungen sofort an den Senat weiterzugeben, sei kein Anruf der Klägerin bekannt.

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II. Die Beschwerde der Klägerin ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.

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1. Der Klägerin war hinsichtlich der Versäumnis der Beschwerdebegründungsfrist (§ 160a Abs 1 S 1 SGG) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs 1 SGG).

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Sie hat ihre Nichtzulassungsbeschwerde nicht innerhalb der verlängerten Begründungsfrist des § 160a Abs 2 S 1 und 2 SGG formgerecht begründet. Die innerhalb der Frist beim BSG eingegangene Beschwerdebegründung war nicht in zulässiger Weise signiert. Das PDF-Dokument wurde nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg iS des § 4 Abs 1 Nr 1 ERVV iVm § 65a Abs 4 SGG, sondern über das EGVP iS des § 4 Abs 1 Nr 2 ERVV eingereicht. Die dabei verwendete qeS bezog sich auf den mehrere Dateien umfassenden "Nachrichtencontainer". Dies genügte aufgrund der ab 1.1.2018 geltenden Fassung des § 65a SGG nicht mehr den Anforderungen der Abs 2, Abs 3 des § 65a SGG iVm § 4 Abs 2 ERVV, wonach mehrere elektronische Dokumente nicht mit einer gemeinsamen qeS übermittelt werden dürfen (Verbot der Container-Signatur).

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Der Klägerin ist aber nach § 67 Abs 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil nach den Gesamtumständen hier davon auszugehen ist, dass sie ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Frist zur Begründung der Beschwerde einzuhalten. Es kann offenbleiben, ob für die damalige besondere Konstellation ausnahmsweise auch zu berücksichtigen ist, dass der Fristablauf in engem zeitlichem Zusammenhang mit der vorübergehenden Einstellung des Übermittlungsweges zwischen dem besonderen Anwaltspostfach (beA) und der elektronischen Poststelle des Gerichts zum 23.12.2017 stand. Die weiterhin mögliche Übermittlung elektronischer Dokumente an das EGVP hatte bis zum 31.12.2017 die Möglichkeit einer Container-Signatur umfasst. Das Fristversäumnis beruhte jedenfalls auch auf Umständen, die im Verantwortungsbereich des Gerichts lagen (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 65a Nr 4 RdNr 10 f). Die Beschwerdebegründung ging zwar erst am Vorabend des letzten Tages der Frist ein. Nicht zuletzt angesichts der gerichtsbekannten aktuellen Probleme bei der elektronischen Übermittlung von Dokumenten und der Änderung der Anforderungen zum 1.1.2018 lag aber nahe, am darauffolgenden Tag anhand des Transfervermerks eine Überprüfung vorzunehmen. Wäre die Klägerin unverzüglich auf die fehlerhafte Signatur hingewiesen worden, hätte sie noch am selben Tag eine Begründung mit qualifizierter Signatur für jedes einzelne elektronische Dokument übermitteln können. Ein Hinweis des Gerichts auf die fehlerhafte Signatur erfolgte jedoch erst mit Schreiben vom 21.3.2018. Die Klägerin hat daraufhin fristgerecht einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt und die Begründung erneut vorgelegt (§ 67 Abs 2 SGG).

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2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist im Übrigen zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

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Die Klägerin hat den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) formgerecht (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) bezeichnet. Der Verfahrensmangel liegt auch vor. Das LSG hat mit der Entscheidung über die Berufung der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.9.2017 den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt.

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a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne der aufgezeigten Vorschriften gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzulegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5 mwN; BSG Beschluss vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B - Juris RdNr 8). Liegt ein erheblicher Grund für eine Terminsverlegung iS des § 227 Abs 1 S 1 ZPO iVm § 202 SGG vor und wird dies ordnungsgemäß beantragt, besteht grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - Juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 7.12.2017 - B 5 R 378/16 B - Juris RdNr 5). Die Behandlung von Anträgen auf Terminsverlegung hat der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen (vgl hierzu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 58).

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Der Anspruch auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren verbietet ua auch, dass ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen Verfahrensnachteile für die Beteiligten ableitet (vgl BVerfGE 60, 1, 6 f; 69, 381, 386; 75, 183, 190; BVerfG vom 2.6.2010 - 1 BvR 448/06 - NZS 2011, 133; BSG Urteil vom 25.3.2003 - B 7 AL 76/02 R). Wenn daher ein Terminsverlegungsantrag unberücksichtigt bleibt, der dem Richter bis zur Urteilsverkündung nicht mehr vorgelegt wird, ist das rechtliche Gehör verletzt, auch wenn er erst am Tage der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingeht (vgl BSG Beschluss vom 24.10.2013 - B 13 R 230/13 B - Juris RdNr 11).

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b) Die Klägerin hat einen iS des § 227 Abs 1 S 1 ZPO erheblichen Terminsverlegungsgrund rechtzeitig geltend gemacht. Sie trägt vor, ihre Prozessbevollmächtigte habe am Terminstag bei Gericht angerufen und mitgeteilt, dass sie wegen einer kurzfristig aufgetretenen Autopanne den Termin nicht wahrnehmen könne, eine rechtzeitige anderweitige Anreise nicht möglich sei und um Verlegung gebeten. Mit diesem Vortrag, den sie durch Vorlage des Telefonprotokolls und einer Rechnung eines Pannendienstes belegt, hat die Klägerin einen erheblichen Grund iS des § 227 Abs 1 S 1 ZPO für ein Nichterscheinen und einen Verlegungsantrag dargelegt. Dabei hätte es eines ausdrücklichen Verlegungsantrags nicht bedurft. Hält das Gericht die Anwesenheit eines Beteiligten für eine Entscheidung für erforderlich und ordnet sein persönliches Erscheinen an, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das Gericht auch ohne Verlegungsantrag eine weitere mündliche Verhandlung anberaumen wird, wenn der Beteiligte sich zu dem Termin begründet entschuldigt hat (BSG Beschluss vom 7.12.2017 - B 5 R 378/16 B - Juris RdNr 5). Dementsprechend hat der Vorsitzende der Klägerin mit Schreiben vom 28.9.2017 mitgeteilt, dass der Rechtsstreit vertagt worden wäre, wenn der Senat vom Anruf der Bevollmächtigten Kenntnis gehabt hätte.

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Nicht erforderlich war ein Anruf bei der für den Senat zuständigen Serviceeinheit. Die Verantwortung für die Weiterleitung des Anrufs in der Telefonzentrale lag bei der Gerichtsverwaltung (vgl für Telefaxe BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 59). Aus der zentralen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für die Gewährung rechtlichen Gehörs folgt, dass die Gerichtsorganisation insbesondere an Sitzungstagen eine telefonische Erreichbarkeit für Beteiligte sicherstellen muss, die unerwartet aus gewichtigen Gründen nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen können. Dabei kann ein Beteiligter bei einem (rechtzeitigen) Anruf der auf dem Ladungsformular angegebenen Telefonnummer davon ausgehen, dass sein Anliegen auch von einer Telefonzentrale ordnungsgemäß behandelt bzw weitergeleitet wird, soweit er nicht andere Informationen erhält (vgl BSG Urteil vom 28.5.2003 - B 3 KR 33/02 R - Juris RdNr 12). Bedient sich die Gerichtsorganisation deshalb einer für mehrere Gerichte zuständigen Telefonzentrale, deren Telefonnummer im Ladungsformular angegeben ist, muss auch dort sichergestellt werden, dass der Beteiligte entweder an die für das Gericht zuständige Serviceeinheit weitergeleitet wird oder von der Zentrale selbst die Mitteilung der Verhinderung und/oder Terminsverlegungsanträge dem Gericht zur Kenntnis gebracht werden. Das war hier nicht der Fall.

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c) Das Urteil des LSG beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG). Einer Darlegung der Klägerin im Einzelnen, welches inhaltliche Vorbringen durch die Nichtverlegung der mündlichen Verhandlung verhindert worden ist, bedarf es nicht. Bei einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, die darin besteht, dass ein Verfahrensbeteiligter gehindert wurde, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass sie für die Entscheidung ursächlich geworden ist (BSG SozR 4-1750 § 227 Nr 1 RdNr 7). Deshalb erübrigen sich Ausführungen dazu, inwieweit das angefochtene Urteil auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen kann (vgl BSG Urteil vom 25.3.2003 - B 7 AL 76/02 R - Juris RdNr 16; BSG Beschluss vom 7.12.2017 - B 5 R 378/16 B - Juris RdNr 14).

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d) Nach § 160a Abs 5 SGG wird im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.